Название | Das Leben ist schön, von einfach war nicht die Rede |
---|---|
Автор произведения | Doro May |
Жанр | Сделай Сам |
Серия | |
Издательство | Сделай Сам |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862567775 |
Meine Tochter hat das Down-Syndrom, das in etwa fünf Prozent der Fälle einen Autismus, mal mehr, mal weniger ausgeprägt, als Zugabe parat hat. Das wissen nur wenige; mir war es zum Beispiel völlig unbekannt, obwohl ich gleich nach der Diagnose jede Menge Fachbücher gewälzt habe. Es ist eine harte Diagnose, die verkraftet werden will. Schlimm genug, wenn man anerkennen muss, dass das eigene Kind geistig behindert ist. Dass man wie bei sechs Richtigen im Lotto dann auch noch die Zusatzzahl gezogen hat, ist mehr als heftig. Denn diese im Grunde genommen mehrfach behinderten Menschen können sich im Extremfall kaum mitteilen, und das tut den Eltern weh, wenn sie erleben, wie das Gesicht ihres Kindes immer leerer, immer ausdrucksloser wird, weil sich das Leben kaum in ihm abbilden kann. Auch sind sie auf sehr fest gezurrte Abläufe im Alltag angewiesen, damit sie die Orientierung behalten. Das geht soweit, dass man unter Umständen einen gewohnten Weg nicht verlassen kann.
Ganz wörtlich: Ist man auf dem Hinweg eine bestimmte Straße entlanggegangen, tut man gut daran, dieselbe Straße auch für den Rückweg einzukalkulieren. Am besten sogar dieselbe Seite des Bürgersteigs. Sonst kann es nämlich passieren, dass Leute wie Tina plötzlich eigenständig losrennen, um den für sie bekannten Weg zu verfolgen, also rasch und unvermittelt über die Fahrbahn zu rennen. Oder sie setzen sich schlichtweg an Ort und Stelle hin – und sei es mitten auf die Straße oder in eine Pfütze …
Wie gesagt: Aktiver Protest war noch nie Tinas Problem.
Tina hat zwar nicht das Vollbild eines Autisten, aber ausgeprägte autistische Züge. Menschen wie Tina sind dazu verdammt, vieles, manche auch alles mit sich alleine auszumachen: in einem Winkel in ihrem Innersten, der so fest verschlossen ist, dass denjenigen, die alles für sie tun und sein wollen, allzu oft nur die Rolle des ohnmächtigen Zuschauers zukommt.
Es bleibt keine andere Chance für die betroffenen Eltern, als sich aus dem tiefen Loch, das einem der Kummer gegraben hat, herauszubaggern, Hilfen anzunehmen und dem Schicksal eins auszuwischen, indem man das Leben in seiner Schräglage akzeptieren lernt. Es hat eben nicht anders sollen sein, und damit basta!
Ein langer Weg bis dahin, den ich in dem Band Meine besondere Tochter – Liebe zu einem Kind mit Behinderung (Sankt Ulrich Verlag, Augsburg 2010) versucht habe zu beschreiben. Die Arbeit an jenem Buch liegt mehr als zehn Jahre zurück. Als ich begonnen hatte, war alles noch so neu: Vier Jahre lang habe ich an dem Manuskript gesessen, habe damals noch per Hand geschrieben, durchgestrichen, verworfen, neu begonnen. Und das alles aus eigenwilliger Perspektive – in der seltenen Du-Form, als würde ich einen Brief an mich selbst schreiben. Einfach paradox! Ich wollte über meine Tochter und mich berichten, aber selbst eigentlich nicht so richtig vorkommen.
Zum Glück geriet das Manuskript durch Zufall an eine Journalistin, die es einem Literaturagenten zeigte … Zufall ist manchmal etwas, das einem zufällt. Und so traf Tinas und meine Geschichte auf einen Lektor, der rigoros auf der einzig vernünftigen Erzählperspektive bestand: auf der Ich-Perspektive! So einfach wie logisch. Aber das musste ich erst einmal kapieren, denn eigentlich war das Buch ja ursprünglich für mich.
Ich habe mir mein Leben mit Tina von der Seele geschrieben. Nein. Ich habe es mir in die Seele geschrieben, denn durch das Hinschreiben wurde mir bewusst, wie gut mir Tina gefällt und wie sehr sie ein Teil von mir ist. Was ging es andere Menschen an, wie ich mich fühlte und was für ein Kind ich hatte? Damals nannte ich meine Tochter im Manuskript tatsächlich Mein Anderes Kind. Aus heutiger Sicht ganz und gar unpassend, denn in erster Linie ist sie Tina – ein höchst individuelles Menschenkind, das es nicht nötig hat, sich ausschließlich über ihr Anderssein definieren zu lassen.
By the way: Wegen Tina bin ich Schriftstellerin geworden. Da man unsere Tochter besser niemals alleine in einem Zimmer lässt, man aber nicht ununterbrochen Lust hat auf Action, bis der Arzt kommt, beschäftigt man sich zwangsläufig irgendwann selbst. Dies hat sich bei mir zur Initialzündung gemausert, bedenkt man, dass ich bereits als Kind Bücher fabuliert habe.
Mein Kopf war immer schon voller Geschichten. Nun hat mich Tina dahin geschubst, wo ich hingehöre-und in meinem Innersten immer schon hinwollte – nämlich zur schreibenden Zunft. Allen Ernstes: Im Januar habe ich meinen Job als Oberstudienrätin an einem altehrwürdigen Gymnasium gekündigt, weil ich mich beruflich nur noch damit befassen möchte, was ganz offenbar meine Bestimmung ist.
Danke, Tina!
Nun ist Tina eine erwachsene Frau – jedenfalls an Jahren und natürlich auch vor dem Gesetz. Ich bin nicht nur ihre leibliche Mutter, sondern in juristischem Sinn ihre Betreuerin und in vielfältiger Hinsicht nah dran am Leben meiner besonderen Tochter. Eine große Verantwortung – ohne Frage. Aber zugleich eine Aufgabe, die ich nicht missen möchte, zumal ich gelernt habe, Verantwortung abzugeben, denn es gibt hervorragend ausgebildete Betreuerinnen und Betreuer. Es ist gar nicht hoch genug einzuschätzen, was Eltern in den sechziger Jahren, also deutlich vor meiner Zeit als Tinas Mutter, mit der Lebenshilfe ins Leben gerufen haben. Sie betrifft bei weitem nicht nur die besonderen Mitmenschen, sondern uns – die Eltern. Wenn man es recht bedenkt, sind nämlich wir Eltern diejenigen, denen geholfen werden muss – vor allem, wenn wir noch am Anfang unserer Karriere derjenigen stehen, die ein behindertes Kind bekommen haben.
Schon hier sei angemerkt, dass mein Leben bereits seit längerem in ziemlich geregelten Bahnen abläuft, weil Tina dort leben darf, wo sie nun lebt: in einem Wohnheim des Landschaftsverbands Rheinland. Mit Hilfe unserer Steuern ist er Kostenträger und nimmt mir die finanzielle Seite weitestgehend ab. Und so wird auch dafür sorgt, dass mein Kind auf seine spezielle Weise ein eigenständiges Leben führen kann und sorglos alt werden darf – auch dann, wenn es mich eines Tages nicht mehr gibt.
2
Das Leben ist endlich
Sicherlich gibt es viele betroffene Mütter und/oder Väter, die sich wünschen, erst einen Tag nach ihrem besonderen Kind sterben zu dürfen. Am liebsten sogar gleichzeitig mit ihm!
Das war jahrelang auch meine Wunschvorstellung.
Es ist nicht so, dass ich mir konkret ausgemalt hätte, wie wir zusammen zu Tode kommen. Ich habe also kein Unfallszenario vor meinem inneren Auge abspulen lassen, obwohl in Anbetracht der Tatsache, dass das Leben lebensgefährlich sein kann, genügend Stoff dazu abrufbar sein dürfte. Es ist vielmehr das Ergebnis, das sich vor meinem inneren Auge abspielt: Unser beider Leben geht zu Ende. Dabei ist es nicht gleichgültig, auf welche Weise, denn natürlich hätte ich gerne einen sanften und weisen Tod. Wir fassen uns an den Händen und gehen gemeinsam den für uns angelegten Weg. Wir erleben einen angenehmen Wechsel; man macht uns den Abschied leicht und wir werden gemeinsam im Drüben empfangen. Unsere Hände lassen sich die ganze Zeit nicht los – erst, wenn wir dort sind, am Ziel angelangt, dann kann ich Tina getrost loslassen. Sie braucht mich nun nicht mehr.
Eine Vorstellung, die beruhigt, sogar glücklich macht. Aber eben nur ein Wunschtraum.
Jetzt weiß ich, dass Tina in fortgeschrittenem Alter in die Seniorenwohnung einzieht. Sie ist gleich neben ihrer jetzigen Wohngruppe und also unter demselben Dach. Tina muss sich nicht großartig umgewöhnen. Die alten Leute von nebenan sind für sie keine Unbekannten. Die jahreszeitlichen Feste wie Sankt Martin, Nikolaus, Weihnachten, Ostern, die Frühlingsfeier oder das Sommerfest werden mit allen gemeinsam begangen. Kann auch sein, dass Tina eines Tages in ein Wohnheim zieht, das nicht so weit weg ist von unserem Zuhause und dem ihrer großen Schwester. In dem Fall wäre es schön, wenn sie mit ihren Mitbewohnern zusammen alt werden könnte, ohne noch einmal umziehen zu müssen.
Das ist nicht selbstverständlich, weil es lange Zeit durchaus üblich war, dass die Bewohner, wenn sie ins offizielle Rentenalter kommen, den Wohnort wechseln müssen, um in eine Art Pflegewohnheim für behinderte Rentner zu ziehen. Keine angenehme Vorstellung für die alternden Eltern, weil sie nicht in Ruhe sterben können mit der Frage, was eines Tages aus ihren Kindern wird. Die eigene Phantasie