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sah sie ihn nur traurig an, und er wusste sofort, dass sie ihn nicht haben wollte. Obwohl er solcherlei Ablehnung gewohnt war, versetzte es ihm dennoch wie jedes Mal einen Stich ins Herz. Es dauerte nicht lange, bis die Enttäuschung dem Zorn wich. Iratio hatte früh gelernt, dass Zorn eine gute und logische Reaktion auf die zahlreichen Wunden war, die das Leben schlug, weil Zorn nicht nur den Schmerz betäubte, sondern zusätzlich die Gedanken in eine andere Richtung lenkte.

      »Iratio ...« Maylin kam auf ihn zu und wollte ihn an sich ziehen, doch er entwand sich ihrem Griff. »Iratio«, sagte sie erneut. »Wenn es allein nach mir ginge, würde ich dich gern bei mir behalten. Aber sieh mich an. Ich bin alt. Ich kann mich nicht um dich kümmern.«

      »Das musst du auch nicht«, stieß der Junge trotzig hervor. »Das hat auch bisher niemand getan. Ich dachte nur, dass du ... dass du ... anders bist.«

      Maylin seufzte. Wahrscheinlich tat er ihr unrecht, aber das war ihm in diesem Moment egal. Die Wut fühlte sich richtig an, also hieß er sie willkommen und ließ sich auf sie ein.

      »Man sucht sicher schon nach dir«, sprach die alte Frau weiter. »Es gibt immer wieder Kontrollen im Lager. Und gerade bei Kindern schauen die Oficiales, die Ordnungshüter, besonders genau hin. Ecuador ist erst vor ein paar Jahren Mitglied der Terranischen Union geworden, und die Regierung bemüht sich intensiv darum, die damit verbundenen humanitären Auflagen zu erfüllen.«

      Iratio verstand nicht in vollem Umfang, wovon Maylin da redete. Aus dem Trivid wusste er, dass die Terranische Union eine Art Zusammenschluss von Ländern war, der von einem Mann namens Perry Rhodan angeführt wurde. Sein Vater bezeichnete ihn als pendejo sin cabeza, aber das hatte nicht viel zu sagen. Vater beleidigte praktisch jeden, der ihm noch keinen Drink spendiert hatte.

      Ein paarmal hatte Iratio den sogenannten Protektor im heimischen Holowürfel gesehen. Ein schlanker Mann mit graublauen Augen und dunkelblonden Haaren, dessen Gesicht zu leuchten schien, wenn er von einer aufregenden und großartigen Zukunft sprach, die auf die Menschen wartete. Auf alle Menschen. Iratio hatte das gefallen; sein Vater dagegen hatte nur hämisch gelacht und eine neue Flasche Aguardiente entkorkt.

      »Das verstehst du doch, oder?«, riss ihn Maylin aus seinen Gedanken.

      Er sah sie an – immer noch wütend und verletzt. »Soll ich gleich verschwinden?«, fragte er laut. »Ich will dich auf keinen Fall von wichtigen Dingen abhalten. Schließlich hast du schon genug Zeit und Mühe in mich investiert ...«

      Während des Sprechens war seine Stimme immer leiser geworden, und die letzten Wörter hatte er nur noch unter Tränen herausgebracht.

      Hör auf zu flennen, giftete Vater in seinem Kopf. Was bist du? Ein Mann oder ein verdammter Schwächling?

      Diesmal ließ Iratio Hondro zu, dass ihn Maylin in die Arme nahm und an sich drückte. Es fühlte sich so unglaublich gut an. Für einen winzigen Augenblick konnte man alles andere um sich herum vergessen. Aber er wusste auch, dass die harte Realität danach nur umso brutaler zurückkehren und ihren Preis für jeden Moment des Glücks und der Geborgenheit einfordern würde.

      »Ist schon gut, mein Kleiner«, drang die Stimme der alten Frau an seine Ohren und zerriss seinen Hass und seine Wut in winzige Fetzen. »Natürlich bleibst du erst mal bei mir. Um alles andere kümmern wir uns später.«

      3.

      Quito

      In den folgenden Monaten war Iratio Hondro zum ersten Mal in seinem Leben wirklich glücklich. Der Alltag der Desamparados war alles andere als einfach, aber die Frauen und Männer im Lager hatten ihn schnell in ihre Herzen geschlossen und kümmerten sich geradezu rührend um ihn.

      Iratio machte sich nützlich, so gut er konnte. Trotz seiner erst sieben Jahre konnte er bereits ausgezeichnet schreiben und lesen, eine Qualifikation, über die die meisten Obdachlosen in La Floresta nicht oder nur eingeschränkt verfügten. Also half er seinen neuen Freunden beim Ausfüllen der Formulare, wenn sie ihre staatlichen Beihilfen abholten, oder las ihnen abends am Feuer aus den Zeitungen vor.

      Seinen Vater hatte es nie geschert, was Iratio tagsüber trieb. Am liebsten war es Vater gewesen, wenn er gar nicht daran erinnert wurde, dass er überhaupt einen Sohn hatte. Erst als Iratio älter wurde, begriff er den Grund dafür, nämlich dass er Vater jedes Mal an dessen verstorbene Frau erinnerte, einen Verlust, den dieser nie verkraftet hatte. Seine zweite Ehe war er deshalb mit einem Partner eingegangen, der ihn zwar langsam zerstörte, dafür aber jederzeit verfügbar war: dem Alkohol.

      Vater war es von Anfang an egal gewesen, ob Iratio zur Schule ging oder sich lieber – wie so viele andere Kinder des Viertels – auf der Straße herumtrieb. Für ihn war lediglich wichtig, dass er seine Ruhe hatte und sich den wirklich bedeutsamen Aufgaben widmen konnte. Dem Trinken, dem Selbstmitleid und den damit verbundenen Wutausbrüchen, bei denen Iratio jedes Mal als Blitzableiter herhalten musste.

      Iratio war gern zur Schule gegangen. Denjenigen, die ihn deshalb verspotteten, hatte er ein- oder zweimal die Nase blutig geschlagen; dann hatten sie es kapiert und ihn in Ruhe gelassen. Dass er dafür hatte nachsitzen müssen, hatte er eher als Belohnung denn als Strafe empfunden. Lesen lernte er schneller als alle anderen. Er lieh sich eins der Positronikpads aus der Schulbibliothek aus, und für ein paar Wochen hatte er sich im siebten Himmel geglaubt, denn das Gerät eröffnete ihm den Zugang in ein Universum aus nahezu grenzenlosem Wissen und ungezählten Geschichten. Dann entdeckte Vater das Gerät und verkaufte es, um seine Trunksucht zu finanzieren.

      Der Schule gegenüber hatte Iratio behauptet, er habe das Pad verloren, aber man glaubte ihm nicht. Da er die Wahrheit nicht sagen konnte, weil Vater ihn sonst totgeprügelt hätte, durfte er fortan nur noch im Schulgebäude lesen. Das war immerhin besser als nichts. Trotzdem hasste er seinen Vater für das, was er getan hatte, auch wenn den das nicht im Mindesten kümmerte.

      Maylin war eine der wenigen im Lager, die gut lesen konnten. Zwischen den Zeitungsstapeln in ihrem Zelt entdeckte Iratio jede Menge Bücher. Altmodische, teilweise noch auf Papier gedruckte Exemplare, deren Seiten über die Jahrzehnte gelb und fleckig geworden waren, doch für ihn waren sie ein wunderbarer Schatz. Eins davon, ein ziemlich dicker Wälzer mit festem Einband trug den Titel »Perry Rhodan – sein Weg zu den Sternen«. Ein deutscher Historiker mit dem für Iratio lustig klingenden Namen Anders Eschenbach beschrieb darin das Leben des berühmtesten Manns der Welt von seiner Geburt im Jahr 1999 über seine Begegnung mit den außerirdischen Arkoniden auf dem Mond bis zur Expedition in die ferne Galaxis Andromeda. Kaum dass Iratio das Buch beendet hatte, las er es ein zweites und danach ein drittes Mal.

      Eschenbach hatte Rhodan mehrfach persönlich getroffen und interviewt. In Terrania, das alle nur die Stadt der Zukunft nannten. Schon die Bilder dieser riesigen Metropole, die mehr Menschen beherbergte als in ganz Ecuador lebten, schlugen Iratio in ihren Bann. Glänzende Türme, die bis in die Wolken hinaufwuchsen. Spiegelnde Fassaden vor einem strahlend blauen Himmel. Blühende Parks mit exotischen Pflanzen von fernen Welten. Und im Zentrum der riesige Goshunsee. Eine Oase inmitten der Wüste, bevölkert von Menschen – und Wesen von Planeten, die so weit von der Erde entfernt waren, dass sogar das Licht Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende brauchte, um sie zu erreichen.

      Perry Rhodan wollte, dass jeder an diesen Wundern teilhatte. Er sprach viel von Zusammenarbeit und Toleranz. Und davon, dass die Bewohner der Erde begreifen mussten, dass eine lebenswerte Zukunft für alle nur dann möglich sei, wenn sie ihren Horizont erweiterten. Wenn sie überholte Denkmuster und alte Überzeugungen über Bord warfen, Mauern und Zäune niederrissen sowie jeden einzelnen Menschen als das sahen, was er war: ein faszinierendes und unersetzliches Puzzleteil, ohne das das Universum nicht vollständig war.

      Iratio fand diesen Gedanken großartig – und den Mann bewundernswert, der ihn in seinen Kopf gepflanzt hatte. Von da an träumte Iratio davon, eines Tages nach Terrania reisen und Perry Rhodan begegnen zu können. Dann würde er ihn beim Wort nehmen. Dann würde er zu einem Teil jener Zukunft werden, für die dieser Mann kämpfte. Er würde an seiner Seite stehen und ihm dabei helfen, die Menschheit in ein neues Zeitalter zu führen.

      Wenige Tage später holte ihn die Realität ein, und seine Träume