Название | Die Europäische Einigung. Von 1945 bis heute |
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Автор произведения | Gerhard Brunn |
Жанр | Документальная литература |
Серия | Reclam Sachbuch premium |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783159613017 |
Eine nicht ausgesprochene, verdeckte Zielsetzung ging dahin, mit der vorgeschlagenen Gemeinschaft Frankreichs Stellung als »Grande Nation« zu behaupten. In dem Vorschlag verborgen war auch die Ausgrenzung Englands, da den Autoren bewusst war, dass England einer supranationalen Behörde niemals zustimmen würde. Damit aber würde Frankreich automatisch die Führungsrolle in Kontinentaleuropa zufallen. Es würde eine Art Schirmherrschaft und seine Stellung als Großmacht behaupten. Dies war auch einer der Gründe für die so stark betonte Notwendigkeit der Modernisierung der französischen Industrie. Frankreich war aber immer noch so schwach, dass es sich bei seinen Ambitionen auf Deutschland stützen musste. Deshalb war es für Frankreich so wichtig zu handeln, solange es sich noch in einer Position der Stärke befand und es für die junge Bundesrepublik noch attraktiv sein würde, ihre Montanindustrie zusammen mit der anderer Staaten unter eine europäische Vormundschaft stellen zu lassen. Die französische Schwäche machte es auch wichtig, die Beneluxstaaten mit einzubeziehen, damit Frankreich nicht Deutschland allein gegenübertreten musste. Insofern war das französische Verhalten bestimmt von einer verqueren Mischung von großem Anspruch und Minderwertigkeitskomplexen.
Schuman präsentierte den Plan als ein großzügiges, von europäischen Idealen bestimmtes Angebot, und so bezeichnete es auch Konrad Adenauer, als er ihm sofort und ohne Vorbehalte zustimmte. Gewiss kann man Robert Schuman und dem Architekten des Plans, Jean Monnet, europäischen Idealismus nicht absprechen. Angesichts der sehr entschiedenen nationalen Zielsetzungen des Vorschlags kann man wohl zu Recht davon sprechen, dass der Plan gleichermaßen eine Instrumentalisierung der Europapolitik für nationale Zwecke beinhaltete. Anders formuliert: Er war eine Fortsetzung der nationalen Politik mit europäischen Mitteln.
Man wird bezweifeln müssen, dass der Plan von der französischen Regierung hätte akzeptiert und präsentiert werden können, wenn nicht die Situation so drängend gewesen wäre. Der Regierung war bekannt, dass auf der am 11. Mai beginnenden Konferenz der drei Außenminister der USA, Großbritanniens und Frankreichs der amerikanische und englische Außenminister eine Aufhebung der Begrenzung der westdeutschen Stahlproduktion verlangen würden. Ebenfalls stand eine Milderung der Souveränitätsbeschränkungen der Bundesrepublik auf dem Plan. Darüber hinaus kamen immer dringlichere Forderungen, das Potential der Bundesrepublik auch für die westliche militärische Verteidigung zu nutzen. Entsprechende Forderungen des amerikanischen und britischen Generalstabes lagen vor. Frankreich lief also Gefahr, die Kontrolle über die Bundesrepublik und vor allem über das Ruhrgebiet und die für die französische Wirtschaft so wichtigen Ressourcen (Kokskohle) zu verlieren. Außerdem war abzusehen, dass bei dem verschärften Wettbewerb auf den Exportmärkten die französische Eisen- und Stahlindustrie gegenüber der kostengünstigeren deutschen den Kürzeren ziehen würde. Damit waren die Grundlagen der französischen Außen- und Sicherheitspolitik bedroht. Deshalb kann man wohl zu Recht im Schumanplan eine französische Notwehrreaktion sehen, die aber nur Erfolg hatte, weil sich Anfang 1950 ein Zeitfenster auftat. Im Sommer, nach dem Ausbruch des Koreakriegs, der die Stahlkrise beendete und die Beschränkungen für die westdeutsche Industrie obsolet machte, wäre der Plan wohl kaum noch durchsetzbar gewesen.
Der Plan, bei den beiden großen Antagonisten, Deutschland und Frankreich, jene Wirtschaftsbereiche zu verschmelzen, welche die Basis der Rüstung darstellten, war in seiner Einfachheit blendend, aber keineswegs völlig neu. Unabhängig voneinander hatten neben anderen die Beratende Versammlung des Europarates und die Europäische Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen ähnliche Vorschläge eines europäischen Verbundsystems gemacht. Das Originelle an dem Schumanplan war die institutionelle Architektur mit ihrer dem direkten Einfluss der Nationalstaaten entzogenen und mit echten Kompetenzen ausgestatteten Hohen Behörde.
Der Plan trägt Schumans Namen, aber er stammte nicht von ihm, sondern war von Jean Monnet und einem Team enger Mitarbeiter entworfen worden, die mit ihm die französische Politik aus der Sackgasse herausführen wollten. Monnet hatte ihn zuerst dem Premierminister Bidault vorgelegt, der ihn aber nicht einmal las. Im Gegensatz dazu sagte Außenminister Schuman nach einer Wochenendlektüre: »Ich mache mit.« Um jeglichen Widerstand auszuschalten, hielten die Akteure ihr Vorhaben während der weiteren Ausformulierung geheim. Schuman informierte das Kabinett in vollem Umfang erst am Vormittag des 9. Mai und erhielt die Zustimmung gegen den Widerstand des Premiers. Man kann wohl davon ausgehen, dass den meisten Ministern nicht bewusst war, welche weitreichende Entscheidung sie trafen.
Da vor dem 9. Mai nicht das Geringste durchgesickert war, wirkte der »Geniestreich« in der ersten Überraschung auf die Kontinentaleuropäer unwiderstehlich. Der Plan markiere eine Wasserscheide in der Nachkriegspolitik, so kann man die vorherrschende Auffassung zusammenfassen. Der Plan gebe Europa eine neue Vision in der Zeit der Desillusionierung. Vor der Veröffentlichung allerdings hatte Schuman die Vorsicht besessen, den amerikanischen Außenminister Dean Acheson vertraulich zu informieren. Dean Acheson glaubte seinen Ohren nicht zu trauen, als ihm am 7. Mai auf seiner Durchreise nach London der Plan im engsten Kreise vorgestellt wurde. Er fragte, wie man nach der Veröffentlichung auch in den USA fragte, ob denn nicht ein riesiges Kartell geplant sei. Getreu den Traditionen aus der Vorkriegszeit waren in der Tat in der Industrie schon Pläne erörtert worden, auf die drohende Überproduktionskrise beim Stahl mit einem Kartell zu antworten. Monnet verfolgte mit dem Plan aber gerade ein Anti-Kartellprogramm, er wollte ja die französischen Produzenten nicht schützen, sondern sie dem Wettbewerb aussetzen, um sie zu einem grundsätzlichen Umdenken und zu wettbewerbsmäßigem Verhalten zu zwingen. Acheson ließ sich überzeugen, und die USA unterstützten fortan das Vorhaben tatkräftig. In einer kritischen Verhandlungsphase verhalfen sie ihm zum Erfolg, indem sie die widerstrebenden Deutschen zum Einlenken zwangen.
Es hätte allen diplomatischen Gepflogenheiten widersprochen, wenn Schuman ein so weitreichendes Angebot an die Bundesrepublik der Presse bekannt gegeben hätte, ohne vorher die prinzipielle Zustimmung Bundeskanzler Adenauers einzuholen, da die Bundesrepublik der wichtigste Adressat des Vorschlags war. Adenauers prinzipielles Einverständnis war auch vor der Abstimmung im französischen Kabinett notwendig, um dessen Zustimmung zu erhalten. Als Adenauer während einer Kabinettssitzung am 9. Mai Schumans Erklärung zusammen mit einem persönlichen Schreiben Schumans erhielt, in dem dieser den eminent politischen Zweck des Plans unterstrich, stimmte er sofort »aus ganzem Herzen zu« (Adenauer, Bd. 1, S. 328). Erst zwei Tage zuvor hatte er den Kabinettsmitgliedern eine Denkschrift zur Frage des deutschen Beitritts zum Europarat zugeleitet, in der er, wie schon viele Male zuvor, betonte, dass der Zusammenschluss Europas auf föderativer Grundlage im Interesse aller europäischen Länder, insbesondere auch der Bundesrepublik, notwendig sei, und die Bundesrepublik sich aus tiefster Überzeugung beteiligen müsse. Unabhängig davon, dass der französisch-deutsche Ausgleich seit Kriegsende zu seinen politischen Hauptanliegen gehörte, sah er in dem Schumanplan und im Anschluss der Bundesrepublik an die Projekte der Europäischen Einigung den Weg, Deutschland wieder nach oben zu bringen.
Man kann Adenauer verstehen, brachte doch Schumans Angebot die ein Jahr alte Bundesrepublik erstmals wieder als gleichberechtigten Partner an den internationalen Verhandlungstisch und versprach, sie aus der Isolation herauszuführen. Es eröffnete die Aussicht auf eine neue Qualität der französisch-deutschen Beziehungen, die sich Anfang 1950 wegen der nationalistischen Aufwallungen auf beiden Seiten in der Saarfrage auf einem Tiefpunkt befanden. Er bot eine Handhabe, das von der Bundesrepublik abgetrennte Saarland zurückzugewinnen und von der das deutsche politische Leben so beschwerenden Ruhrbehörde und ihrer Aufsicht über das Ruhrgebiet loszukommen. Deshalb stimmte auch die Stahlindustrie zu, der es darum ging, diese Aufsicht und die von den Alliierten auferlegten Mengenbegrenzungen loszuwerden. Die Aussicht, wieder nach rein wirtschaftlichen Kriterien unbegrenzt produzieren zu können, war der Industrie so wichtig, dass sie in dem Moment bereit war, weitgehende Konzessionen zu machen. Auch die Gewerkschaften reagierten positiv und äußerten die Hoffnung, an der Organisation beteiligt zu werden. Die deutschen Sozialdemokraten waren dagegen. Wie die