Название | Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel |
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Автор произведения | Nadine Erdmann |
Жанр | Языкознание |
Серия | Die Totenbändiger - Die gesamte Staffel |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783958344105 |
Als sie älter wurden, hatten ihre Eltern aus den ungenutzten Dienstbotenquartieren im Dachgeschoss ein eigenes Reich für Ella, Jules und Cam gemacht und jeder von ihnen bekam ein eigenes Zimmer. Cam hatte die Einsamkeit zuerst nicht gemocht und um ihm die Umgewöhnung zu erleichtern, hatten Jules und er ihre Türen erneut offen gelassen. Doch mittlerweile wohnten sie seit über sieben Jahren hier oben und jeder von ihnen hatte seine Privatsphäre schätzen gelernt.
Meistens jedenfalls.
Doch Jules wusste, wie sehr Cam in letzter Zeit zu kämpfen hatte. Die erhöhte Aktivität der Seelenlosen im Unheiligen Jahr und die Aussicht, zur Schule gehen zu müssen, machten ihm schon seit Monaten zu schaffen. Dazu kam noch, dass sich Cams Gefühle für ihn geändert hatten. Als er Jules gestanden hatte, was er für ihn empfand, war das seltsam gewesen. Jules liebte alle seine Geschwister. Ob er mit ihnen blutsverwandt war oder nicht, machte für ihn dabei keinen Unterschied. Sky war seine leibliche Schwester, trotzdem fühlte sich die Verbindung zu ihr nicht anders an als die zu Gabriel oder Ella.
Cam dagegen war anders.
Er war nicht nur sein Bruder, sondern auch sein bester Freund und Seelenverwandter – auch wenn das immer irgendwie ein bisschen abgedroschen und kitschig klang. Aber es stimmte einfach.
Als Kinder waren sie unzertrennlich gewesen und heute mussten sie sich oft nur kurz ansehen, um zu wissen, was der andere dachte. Diese Verbundenheit war ein unglaubliches Gefühl, das Jules um nichts in der Welt missen wollte.
Außerdem war Cam irgendwie besonderer als andere Menschen. Er ließ Jules die Welt mit anderen Augen sehen, weil Cam sie mit anderen Augen sah. Mit Augen, die mehr wertschätzten und sich selbst für nicht so wichtig nahmen. Cam war einfach anders als andere.
Obwohl ihre Familie zusammenhielt wie Pech und Schwefel, hatte es bei ihnen genau wie in allen anderen Familien die üblichen Streitereien und Revierkämpfe unter den Geschwistern gegeben, als sie noch klein gewesen waren. Die Kleinen gegen die Großen, Mädchen gegen Jungs, manchmal jeder gegen jeden.
Wer durfte die neue Frühstücksflockenpackung öffnen und die Sticker haben, die dort drin versteckt waren?
Wer bekam das letzte Fischstäbchen?
Wer durfte als Erster einen Fußabdruck im frisch gefallenen Schnee hinterlassen?
Darum kämpfte man als Geschwister bis aufs Blut.
Metaphorisch gesprochen.
So wollte es das Gesetz.
Cam hatte bei diesen kleinen Machtkämpfen nie mitgemacht. Füllte man ihm bei den Mahlzeiten Essen auf oder gab es Süßigkeiten, hatte er sich über das gefreut, was er bekam. Er hatte niemals nach mehr gefragt, weil er nicht auf den Gedanken gekommen war, dass ihm mehr zustünde. Er erwartete einfach nicht mehr.
Er hatte sich auch nie beschwert, wenn man ihm etwas wegnahm. Wenn Granny Gummibärchen verteilt hatte, verlangte es das Geschwistergesetz, dass man versuchte, sich gegenseitig welche zu klauen. Cam hatte seine jedoch freiwillig hergegeben. Manchmal ohne überhaupt eins zu essen. Nicht, weil er sich vor seinen Geschwistern fürchtete, sondern weil er sie liebte. Und wenn ihnen die Gummibärchen so wichtig waren, dann gab er sie ihnen gerne.
Bei Fremden war es schwieriger gewesen. Wenn die anderen Kinder auf dem Spielplatz gemein zu ihm gewesen waren, wenn sie ihm Spielsachen weggenommen hatten oder ihn beschimpften, weil er ein Totenbändiger war, hatte Cam das zwar auch hingenommen und sich nie gewehrt, doch es hatte ihn wütend gemacht. Richtig wütend. Und die Wut musste irgendwo hin. Meistens landete sie in seinen Füßen und die hatten irgendwo gegentreten müssen. Gegen das Klettergerüst, eine Bank oder einen Mülleimer. Manchmal war die Wut auch in seinen Fäusten gelandet und er hatte sie im Sandkasten in die Burg geschlagen, die sie gebaut hatten.
Einmal war die Wut so schlimm gewesen, dass Cam seine Fäuste gegen einen Baum geschlagen hatte. Immer und immer wieder. Sie waren sieben oder acht Jahre alt gewesen und Jules wusste noch ganz genau, wie erschrocken und hilflos er sich gefühlte hatte, weil Cam nicht hatte aufhören wollen. Sie waren alleine auf dem Spielplatz und erst als Cams Hände voller Blut gewesen waren, hatte Jules es geschafft, ihn mit sich zu ziehen und nach Hause zu bringen.
Ihr Dad hatte die Wunden versorgt und Cam etwas gegeben, damit er ruhiger wurde. Und seine Mum hatte Jules erklärt, dass Cam eine besondere Seele war und er deshalb einen besonderen Freund an seiner Seite brauchte, der auf ihn aufpasste und ihm half, wenn seine Wut oder seine Unruhe zu schlimm wurden.
Jules war sofort bereit gewesen, dieser besondere Freund für Cam zu sein, auch wenn er nicht gewusst hatte, was genau er dafür tun sollte.
»Sei einfach nur an seiner Seite«, hatte seine Mum gesagt. »Zeig ihm, dass du immer da bist, wenn er dich braucht.«
Das fand Jules nicht sonderlich schwierig, schließlich waren sie ja sowieso unzertrennlich.
Und es hatte funktioniert.
Cam hatte sich nie wieder die Fäuste aufgeschlagen.
Er war allerdings auch nie wieder auf den Spielplatz gegangen. Lieber spielte er alleine mit Jules abseits der Wege im Wald und er entdeckte Gabriels altes Skateboard für sich. Stundenlang übte er in ihrer Sackgasse, bis er die Bordsteine und Treppenstufen zu ihrem Vorgarten rauf- und runterspringen konnte. Wenn Jules ihn mal wieder mit zum Spielplatz nehmen wollte, hatte Cam abgelehnt. Selbst dann, wenn Gabriel angeboten hatte, mitzugehen.
Es machte Cam aber nichts aus, wenn die anderen ohne ihn gingen. Meistens war er sich selbst genug und spielte auch gerne alleine. Bis heute hatte sich daran nicht viel geändert.
Auch für Jules nicht.
Nach wie vor war Cam für ihn jemand Besonderes und die Zeit, die sie miteinander verbrachten, war Jules wertvoll, weil sie ihm guttat. Und wenn Cam ihn brauchte, war er für ihn da. Immer. Ohne Wenn und Aber.
Doch Jules brauchte auch die Gesellschaft von anderen. Nur seine Familie, nur Cam – das reichte ihm einfach nicht.
Es schmerzte, dass er für Cam nicht der sein konnte, den Cam gerne gehabt hätte. Aber er konnte ihn nicht anlügen und ihm irgendetwas vormachen. Er war noch nicht bereit, für eine feste Beziehung. So etwas ging man schließlich nicht leichtfertig ein. Es war etwas Besonderes – und er war noch zu neugierig, wollte sich ausprobieren und einfach Spaß haben.
Unbeschwert.
Ohne Verpflichtungen oder schlechtes Gewissen.
Er war froh, dass Cam das verstanden hatte, auch wenn er deshalb auf Abstand zu Jules gegangen war. Jules hatte respektiert, dass Cam den brauchte und er hatte ihn in Ruhe gelassen.
Doch damit war jetzt Schluss.
Das Keuchen, das aus Cams Zimmer drang, klang panisch und verzweifelt, deshalb schoss Jules Respekt und Rücksichtnahme in den Wind und stieß die Tür zu Cams Zimmer auf.
»Cam, ich bin’s.«, sagte er leise und eilte zum Nachttisch. »Ich mache Licht an, okay?«
Er fand den Schalter und warmer Lichtschein vertrieb die Finsternis.
Cam lag steif wie ein Brett auf seiner Matratze und starrte an die Decke. Sein Atem ging in kurzen abgehackten Stößen, als müsste er um sein Leben rennen, während ihm gleichzeitig irgendetwas seine Brust zusammenquetschte. Feine Schweißperlen standen auf seiner Stirn und seine Finger hatten sich so fest in seine Bettdecke gekrallt, dass die Knöchel weiß hervortraten.
»Hey, es ist alles gut.«
Cam reagiert nicht, als Jules sich zu ihm auf die Bettkante setzte. Den Blick noch immer starr zur Decke gerichtet, schien er nicht einmal wahrzunehmen, dass jemand bei ihm