Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist. Jan Skudlarek

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Название Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist
Автор произведения Jan Skudlarek
Жанр Афоризмы и цитаты
Серия Reclam Taschenbuch
Издательство Афоризмы и цитаты
Год выпуска 0
isbn 9783159614540



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ist sogar denkbar, dass ein unechter Arzt im Ausnahmefall seine Patienten besser behandelt als ein echter. Sehr unwahrscheinlich, weil die jahrelange Ausbildung zum Arzt (oder Anwalt oder Polizist) natürlich keine Schikane ist, sondern notwendiges Fachwissen vermittelt. Dennoch können wir uns einen Einzelfall vorstellen, in dem ein Hochstapler, der ein paar medizinische Bücher gelesen hat, beispielsweise eine seltene Krankheit – sei es aus Zufall oder Talent – richtig diagnostiziert.

      Kuriose Ausnahmen von dieser Regel gab es mehrfach auch in Wirklichkeit: Ein gewisser Ferdinand Waldo Demara war als falscher Schiffsarzt während des Koreakrieges im Militäreinsatz und offensichtlich so dreist (und irgendwie talentiert), verwundete Soldaten mit Hilfe eines quasi als Spickzettel aufgeschlagenen Fachbuchs zu operieren – und erstaunlicherweise ist niemand gestorben. Die Endstufe des learning by doing, quasi. Irgendwann landete Demara dennoch im Gefängnis.

      Durch eine erfolgreiche Behandlung oder auch durch Monate oder Jahre erfolgreicher Behandlungen wird ein Betrüger allerdings niemals zum echten Arzt. Für eine solche soziale Echtheit reicht es nicht aus, Handlungen so auszuführen, wie sie auch ein echter X ausführen würde. Entscheidend ist nämlich auch und vor allem die Herkunft bzw. der geschichtliche Kontext. Gemeint ist die Ausbildungsgeschichte der Menschen und die Geschichte des institutionellen Beiwerks ebenjener Ausbildung (Zeugnisse usw.). Lange Rede, kurzer Sinn: Echte Zeugnisse kommen von Universitäten. Nicht aus meinem Drucker.

      Echter Champagner

      Und dann gibt es noch Mischformen stofflicher und sozialer Echtheit. Fälle, in denen wir etwas als echtes X anerkennen, weil es stoffliche Echtheitskriterien und darüber hinaus soziale Echtheitskriterien erfüllt.

      Denken wir an Champagner.

      Champagner ist einerseits Champagner, weil er Schaumwein ist – und kein Bier oder keine Coca-Cola oder Putzwasser. Das ist der stoffliche Anteil. Die Schaumwein-Kriterien müssen auf physischer Ebene erfüllt sein. Andererseits ist echter Champagner nur dann echter Champagner, wenn er aus der Champagne kommt, also aus einer Region in Frankreich. Die Trauben müssen auf eine genau geregelte Art angebaut und verarbeitet (Pflanzungsdichte, in einem genau abgegrenzten Gebiet, Ertragsbeschränkung, Flaschengärung, Mindestlagerzeit auf der Hefe usw.) werden. Sonst ist es kein echter Champagner. Schaumwein, der diese (sozialen) Kriterien nicht erfüllt, nennt man Sekt. Champagner ist nur der Sekt aus der Champagne, weil wir uns als Gemeinschaft darauf geeinigt haben, nur diesen Sekt als Champagner anzuerkennen.

      Echt ist das, was wir gemeinschaftlich als echt anerkennen.

      Von der Perücke, die als Echthaar durchgeht, über falsches Geld, mit dem man dennoch bezahlt, bis hin zu Silikonbrüsten. Vom falschen Polizisten bis hin zum falschen Arzt.

      Was echt ist und was unecht, hat also sowohl mit Schein als auch mit Sein zu tun.

      Was zunächst echt zu sein scheint, ist es deswegen noch lange nicht.

      Falschgeld kann nichts dafür, dass jemand es gefälscht hat. Bei Menschen ist die Lage anders. Menschen wissen nämlich in der Regel sehr wohl, ob sie selbst etwas sind oder nur so scheinen wollen. Wer vor anderen Schein und Sein vertauscht, ist unaufrichtig. Vor allem handelt es sich beim »absichtlich etwas vorspielen, das gar nicht wahr ist« um eine bewusste Täuschung.

      Der Täuschungsaspekt steht in direkter logischer Beziehung zum Problem der Wahrheit und der Echtheit. Täuschen bedeutet ja nichts anderes als das: einer Unwahrheit den Schein der Wahrheit zu geben bzw. einer Unechtheit den Schein der Echtheit. Niemand praktiziert aus Versehen als (falscher) Arzt, niemand tritt aus Versehen als (falscher) Polizist auf.

      Eine unabsichtliche Verwechslung kann man natürlich schnell aufklären. Wer mit weißem Hemd im Krankenhaus von einer Patientin gefragt wird »Entschuldigung, arbeiten Sie hier?«, der entscheidet sich in dem Moment, wenn er antwortet, zwischen Schein oder Sein. Verwechslungen sind normal und gehören zum Alltag dazu. Ein bewusstes Täuschen über die Wahrheit der Dinge findet dann statt, wenn ich weiß, dass das, was ich vortäusche, nicht der Wahrheit entspricht – ich aber so tue als ob, damit die andere Person das Vorgetäuschte für Wahrheit hält.

      Ein Kernproblem bei der philosophischen Frage nach Echtheit ist also das So-tun-als-ob.

      Nicht jedes So-tun-als-ob ist aber ein Wahrheitsproblem. Zum Problem wird es, wenn man dadurch andere absichtlich täuschen will (ggf. böswillig, zum eigenen Vorteil). Breivik tat so, als wäre er ein echter Polizist, um sich Zugang zur Insel Utøya zu erschleichen. Beltracchi tat so, als wären seine Kunstwerke die von anderen (bekannteren) Malern.

      Doch was passiert, wenn tatsächlich alles nur Schein ist?

      Das Truman-Show-Problem9

      Erinnern Sie sich an den Film The Truman Show (1998)? Er erzählt die Geschichte von Truman Burbank; ein Durchschnittsbürger, der in der harmonischen Kleinstadt Seahaven ein ganz normales Leben führt. Zumindest so lange, bis Truman nach einigen Zwischenfällen skeptisch wird. Nach und nach erfährt der Zuschauer die ungeheuerliche Wahrheit: Truman Burbank wurde als Kind von einer Firma adoptiert, die ihn in der künstlichen Stadt Seahaven aufwachsen ließ; umgeben von Schauspielern und nonstop gefilmt. Das Drama seines täglichen Lebens hat ihn ohne sein Wissen zu einem Serienhelden für Millionen von Zuschauern gemacht – vom ersten Wort über den ersten Kuss bis zum ersten Job. Jede Episode seines Lebens wurde live und natürlich ohne Probe mitgeschnitten und gesendet. Sein ganzes Dasein: Inszenierte Unterhaltung. Unecht. The Truman Show.

      Das wussten auch alle.

      Nur einer nicht.

      Truman.

      Diese bitterböse schwarze Komödie zeigt echte existenzielle Dramatik. Wie wäre es für Sie, wenn Sie herausfinden würden, dass Sie nicht nur einmal belogen wurden, sondern immer und von allen? Dass niemand der ist, der er zu sein scheint? Und alle nur so tun, als ob.

      Machen wir ein philosophisches Gedankenexperiment. Denken wir uns zwei Trumans. Der erste ist der Truman-Show-Truman. Er wächst tatsächlich in einer inszenierten Wirklichkeit auf. Nichts Wesentliches ist im engeren Sinne echt. Nichts Wesentliches. Das bedeutet: Wir können davon ausgehen, dass Truman vermutlich »echte Spaghetti« gegessen und »echte Jeans« getragen hat. Die wesentlichen Dinge, das Existenzielle – Freundschaften, Liebe: alles nicht echt. Nach und nach kommt er dahinter und wird vollkommen zu Recht von existenziellem Horror ergriffen. Er erfährt eine Wahrheit, die seine Welt erschüttert. Nennen wir diesen Truman den echten Truman.

      Stellen wir uns nun einen zweiten Truman vor. Dieser Truman wächst in der ganz normalen Wirklichkeit auf. Hat normale Freunde, eine normale Vergangenheit, alles ist stinknormal und so echt, wie unser aller Leben echt ist. Keine Kameras. Allerdings ergreift ihn eines Tages eine Angst. Er fühlt sich beobachtet. Er zweifelt an seinen Mitmenschen. Was, wenn die alle nur schauspielern? Nicht echt sind? Wo, um Gottes willen, sind die Kameras?

      Den zweiten Truman nennen wir den paranoiden Truman.

      Beide Trumans teilen die Überzeugung, dass die Welt sich gegen sie verschworen hat.

      Aber nur einer hat recht.

      Es reicht nämlich nicht aus, dass wir bloß der Überzeugung sind, recht zu haben. Der paranoide Truman denkt auch, dass er recht hat. Das ist ja die Quelle seiner Angst. Recht hat allerdings nur der echte Truman. Warum? Weil seine Vorstellungen der Wirklichkeit entsprechen. Er wird wirklich beobachtet. Seine Freunde sind wirklich ausschließlich Schauspieler. Es ist wirklich alles inszeniert, und jeder hat sich gegen ihn verschworen.

      Deswegen ist der echte Truman zu Recht ergriffen von einer existenziellen Angst. Der paranoide Truman ist zwar auch ergriffen von Panik, aber zu Unrecht. Es gibt keine Kameras, keine Schauspieler, keine Inszenierung.

      Das ist das Problem mit gefühlten Wahrheiten.

      Echtheit und Unechtheit muss man nicht nur erkennen, um sie zu unterscheiden – man muss sie richtig erkennen.

      Schlimmstenfalls