Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist. Jan Skudlarek

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Название Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist
Автор произведения Jan Skudlarek
Жанр Афоризмы и цитаты
Серия Reclam Taschenbuch
Издательство Афоризмы и цитаты
Год выпуска 0
isbn 9783159614540



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der selbsternannten »Impfgegner«. Viele von ihnen: Knallharte Anhänger von Verschwörungstheorien. Sie machen Experten zu korrupten Scharlatanen und die Wirksamkeit medizinischer Stoffe zur Glaubensfrage. Zwischen 2016 und 2017 verdreifachten sich die Masernfälle in der EU.5 Im Januar 2019 erklärte die WHO Impfgegner zur globalen Bedrohung.6

      Das Internet? Eine Echokammer der Konspiration. Auf YouTube raten medizinische Laien bei gefährlichen Krebsarten zur Rohkostdiät statt zu Chemotherapie. Kondensstreifen werden zu Giftangriffen (»Chemtrails«) umgedeutet. War vor wenigen Jahren noch der 11. September unangefochtenes Steckenpferd sämtlicher Verschwörungstheoretiker, findet sich nun zu jedem noch so kleinen Zwischenfall ein Video oder ein Blogeintrag, der sich die »offizielle Story« vornimmt. Sogar das jahrhundertealte Konzept einer kreisrunden Erde: Für die sogenannten flat earther hat die Erde noch Pfannkuchenform. Wer das Gegenteil behauptet: Teil der Verschwörung (doch bevor Sie jubeln, weil Sie mich beim Fake-News-Verbreiten erwischen: Ich gebe es zu; unser Planet ist keineswegs kreisrund; er ist oval, kartoffelförmig).

      Für viele scheint aber mittlerweile nichts so, wie es scheint. Eine Aura der Fälschung umgibt die Gegenwart.

      Selbst die Geschichte ist nicht sicher.

      Literatur zur Holocaustleugnung? Bekommt man auf Amazon.7 Ein Verlag, dessen Namen man leicht mit dem eines Fußballtrainers verwechseln könnte, verdient Millionen mit dubioser Literatur über die angeblichen Machenschaften der Mächtigen. In ihrer Gedankenwelt ist Angela Merkel entweder eine Marionette, das Mastermind hinter der »Umvolkung« oder die Galionsfigur des »Merkelregimes« – oder gleich alles zusammen.

      So oder so: Das Geschäft mit der Angst läuft gut. Mehr noch: Es läuft blendend.

      In den Vereinigten Staaten ist Alex Jones wiederum eine der einflussreichsten Internetpersonen. Vor ein paar Jahrhunderten wäre er als verrückter Wanderprediger durch die Gegend gezogen. Heute bespielt der cholerische Lügenbaron mit seiner Mischung aus Verschwörungstheorien und Hetzkampagnen die halbe US-amerikanische Mittelschicht. Beeinflusst Wahlen. Diejenigen, die an seinen Lippen hängen, kriegen wahlweise Konstrukte serviert, wonach die ehemalige demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton zum Beispiel einen Kinderpornoring aus einer Pizzeria heraus betreibt (»Pizzagate«), Satanisten die USA bedrohen, die Regierung das Wetter kontrolliert, diverse Terroranschläge mitverantwortet oder Amokläufe an Schulen inszeniert (mit Unterstützung einer komplizenhaften Presse); Letzteres nur, um in der Öffentlichkeit Stimmung gegen harmlose Waffenbesitzer zu machen. Und solche Kopfgeburten sind keineswegs Randerscheinungen, sondern seit Jahren tief verwurzelt im Mainstream. Donald Trump besuchte die Sendung des Königs aller Verschwörungstheoretiker Jones während des Wahlkampfes 2016 und meinte brüderlich: »Dein Ruf ist fabelhaft. Ich werde dich nicht enttäuschen.« Und so kam es. Alex Jones wurde nicht enttäuscht, sondern zum wichtigsten Megafon rechtskonspirativer Ideen in Trumps Amerika.8

      Wir stellen fest: Immer weniger Menschen sind willens, geschweige denn fähig, zwischen Fakten und »alternativen Fakten« zu unterscheiden, wobei Letztere oft nicht mehr sind als eine dreiste Form der Täuschung. Wie man es auch dreht und wendet: Die Wahrheit steht unter Beschuss. Wir sehen Verschwörungstheorien an allen Ecken und Enden. Lächerliche und weniger lächerliche Unwahrheiten werden salonfähig gemacht von denen, die von diesen profitieren.

      Manche Unwahrheiten, Dümmlichkeiten und Manipulationsversuche haben eine irgendwie faktische Grundlage (wie unser Nudelsiebproblem, das sich ja auf ein tatsächlich vorhandenes Stück Metall bezieht). Andere sind geradewegs hirnrissig. Allen gemein ist der Kampf um die passende Beschreibung der Wirklichkeit. Deshalb ist der Kampf um Wahrheit auch ein Kampf um Worte. Weil Worte etwas bedeuten und selbst hinter ähnlichen Begriffen niemals identische Konzepte stehen.

      Grundfrage dieses Buches ist konsequenterweise die Frage nach der angemessenen Beschreibung der Wirklichkeit. Wir werden ihr in verschiedenen Facetten begegnen. Sei es in Form einer philosophischen Erörterung des Begriffes der Echtheit oder sozialpsychologisch gegründeten Antworten auf die Frage, was Menschen an Verschwörungstheorien so attraktiv finden. Im Zentrum steht dabei immer die menschliche Erkenntnis sowie gleichermaßen unser Bedürfnis, an ihr zu zweifeln. Es geht um die ganze Wahrheit – und um andere Lügen.

      Echte Probleme. Über Wahrheit und Echtheit

      Über Leder und Polizisten

      Als Martin Nilsen den Bootssteg betritt, ist es Hochsommer. Ende Juli. Am Himmel sind ein paar Wolken zu sehen. Das Wetter ist warm, aber nicht heiß. Ein ganz normaler Sommertag in Norwegen.

      Ich bin hier, um auf der Insel nach dem Rechten zu sehen.

      Monica Bøsei mustert den Fremden.

      Mitte dreißig, ein Mann von normaler Statur. Geheimratsecken.

      Frau Bøsei trägt die Verantwortung für alles, was auf der Insel geschieht, zu der die Fähre vom Bootssteg aus ablegt. Sie entscheidet, wer kommen darf. Auch an diesem Freitag.

      Martin Nilsen trägt eine Polizeiuniform und wirkt ernst. Die Situation ist auch ernst. Neunzig Minuten zuvor ist eine Bombe im Osloer Regierungsviertel explodiert. Es gibt Berichte über Tote. Monica Bøsei zögert zunächst, dann gewährt sie dem Osloer Polizeibeamten die Überfahrt zur Insel.

      Zu diesem Zeitpunkt findet dort ein politisches Sommercamp mit etwa 600 Teenagern statt.

      Das Boot legt ab.

      Die Wahrheit: Martin Nilsen ist nicht Martin Nilsen. Er ist auch kein Polizist. Der Mann, der sich als Martin Nilsen vorstellt und eine Polizeiuniform trägt, ist ein Terrorist.

      Er heißt Anders Behring Breivik.

      Die Bombe im Regierungsviertel war von ihm gelegt worden.

      Nach der Überfahrt zur Insel tötet er Monica Bøsei sofort und ermordet weitere 68 Menschen auf der Insel Utøya. Über 100 verletzt er.

      Breivik durfte die Insel Utøya betreten, weil er wie ein echter Polizist auftrat.

      Wie erkennen wir, was echt ist und was nicht? Was heißt das überhaupt: »echt«?

      Echtheit und Wahrheit sind zwei Früchte vom selben Baum, dem Baum der Wirklichkeit. Beide Früchte hängen mit der menschlichen Wahrnehmung zusammen. Wenn etwas echt oder unecht ist, heißt das nicht zuletzt, dass wir es als echt oder unecht erkennen. Echtheitsfragen sind Wahrheitsfragen. Deshalb spielt das Problem der Echtheit im Folgenden eine wichtige Rolle.

      Fangen wir vergleichsweise einfach an.

      Können Sie echtes Leder von Kunstleder unterscheiden?

      Auf theoretischer Ebene sicherlich.

      Die Theorie geht so: Echtes Leder ist gegerbte und mit Chemikalien haltbar gemachte Tierhaut. Sie stammt, nun ja, von einem echten Tier. Zum Beispiel von einem Rind oder einem Kalb, das, wie alle Lebewesen, durch Zeugung entstanden und durch Zellwachstum herangewachsen ist, bis es schließlich von Menschen geschlachtet und gehäutet wurde.

      Kunstleder war nie Bestandteil eines Lebewesens. Deswegen können Tierfreunde es bedenkenfrei tragen. Kunstleder ist nämlich – hier kommt die Pointe – kein echtes Leder. Es besteht aus Textilien, die mit einer Kunststoffschicht überzogen werden, um wie echtes Leder zu wirken.

      In der Theorie ist der Unterschied einfach zu erkennen.

      In der Praxis sieht das schon ganz anders aus.

      Kennt man sich nicht so gut aus, ist es nicht einfach, echtes Leder von Kunstleder zu unterscheiden. Zumindest nicht auf Anhieb. Stellen wir uns eine Fußgängerzone vor: Zehn Passanten laufen vorbei. Sie tragen Jacken, Handtaschen, Schuhe, Gürtel. Manche davon aus echtem Leder, die anderen nicht. Von nahem sieht das geschulte Auge den Unterschied. Wer sich dafür nicht so interessiert, wird den Unterschied eher nicht erkennen.

      Und genau das ist der Sinn der Sache!

      Im Ladengeschäft verhält sich das dann wieder anders. Der Kenner weiß nämlich: Echtes Leder ist teuer. Weil es eben aufwendig ist, ein Tier zu züchten und dessen Haut fachgerecht zu Lederstoffen weiterzuverarbeiten.