Название | Die Rabenringe - Gabe (Band 3) |
---|---|
Автор произведения | Siri Pettersen |
Жанр | Книги для детей: прочее |
Серия | |
Издательство | Книги для детей: прочее |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783038801153 |
Kolail und Ǫni gingen dicht neben ihr, damit sie mit niemandem in Berührung kam. Es duftete nach Essen. Essbarem Essen! Dann gab es also noch andere Speisen als die ekligen Kekse. Der Hunger drohte ihre Müdigkeit zu übertrumpfen.
Jemand spielte an einem Fenster weiter oben im Fels. Tiefe Flötentöne. Direkt daneben das Geräusch einer Winsch. Seile bewegten Körbe von einer Straßenseite zur anderen.
Hirka dachte an all das, was sie gesehen hatte, seit sie das erste Mal durch die Tore gegangen war. York. London. Venedig. Sie dachte an die Türen, die sich von selbst öffneten. An Stefans Pistole. An das Museum, wo sie den Fußboden zerstört hatten. Dinge, die sie nie für möglich gehalten hätte.
Trotzdem war nichts so fremd gewesen wie das hier. Vielleicht, weil alle Gesichter, die sie sah, weiße Augen hatten? Vielleicht waren es die Klauen? Oder war es die Gewissheit, dass alle, die sie sah, Tausende von Jahren leben würden?
Sie fühlte sich vollkommen matt. Unendlich müde. Sie konnte von dem, was sie sah, nichts mehr aufnehmen. Es wurde zu viel. Tagelang durch froststarre Einöde und jetzt das? Sie gingen an Marktständen vorbei, an denen Tee verkauft wurde, wie sie glaubte, aber wie sich herausstellte, war es Tabak. Vorbei an zweifelhaften Höhlen, in denen bärtige Blinde saßen und tranken. Sie sah, wie Kolail einem Mann zunickte, der vor einer Schankstube stand und einen Wolf an der Leine hatte. Hinter ihm bemerkte sie eine rote Tür unter einem morschen Überbau.
An mehreren Stellen öffneten sich neue Spalten und neue Straßen in der Felswand. Es wurde plötzlich wärmer. Kolail riss sie zurück, gerade noch rechtzeitig, um nicht von dem Dampfstrahl getroffen zu werden, der aus einem Spalt zwischen zwei Ständen schoss.
»Pass auf, wo du langgehst.«
Hirka hatte nicht die Kraft für eine Antwort. Wie sollte sie da die Kraft haben, der Familie gegenüberzutreten? Bei dem Gedanken wurde ihr wieder eiskalt. Sie war hier. In derselben Stadt wie Graals Eltern. Ihre Großeltern. Familie. Ihre Knie wurden weich. Kolail packte ihren Arm und stützte sie. Sie gingen in eine Straße, die aufgeräumter wirkte. Hier waren die Leute leichter bekleidet.
Dreyri. Die obersten Häuser.
Die Straße öffnete sich am Ende. Zu einem Krater. Nein, Krater war nicht das richtige Wort. Es gab kein Wort dafür. Das hier war das Ende der Welt. Ein Schlund ins Innere der Erde. Die Straße kam tief unten in der Kraterwand heraus, aber dennoch konnte Hirka den Grund nicht sehen. Es war zu dunkel. Die Straßen waren auch hier aus dem Fels gehauen worden. Straßen und Häuser, rundherum. Tausende von Lichtern ließen das riesige Loch wie einen Sternenhimmel wirken. Das hier war die Mitte der Stadt. Der Ursprung aller Spalten. Aller Straßen.
Hirka hatte sich in großen Höhen immer wohlgefühlt, aber jetzt wurde ihr schwindlig. Sie fühlte sich leer. Erschöpft. »Warum?«, murmelte sie. »Was ist das hier?«
»Wahnsinn«, erwiderte Kolail.
Sie musste zusammengesunken sein, denn er fing sie auf und trug sie auf seinen Armen weiter. Skerri hinderte ihn nicht daran. Vielleicht, weil die breite Brust eines Gefallenen das beste aller Verstecke war? Hirka entglitten die Gedanken und ihr Bewusstsein erlosch.
Blut von meinem Blut
Draußen tosten die Wellen. Ein Geräusch, das sie beinahe vergessen hatte.
Das Meer.
Wo bin ich?
Hirka schlug die Augen auf. Sie lag auf der Seite und starrte gegen eine Wand. Sie war eingesperrt.
Kalte Angst überkam sie. Sie stemmte die Hände gegen die Wand. Die knarrte, ohne nachzugeben. Der Raum begann zu schwingen. War sie auf einem Boot?
Sie setzte sich auf. Kein Käfig. Kein Boot. Sie saß in einem Bett. Was sie für eine Wand gehalten hatte, war eine hohe Umrandung. Es war, als würde man in einem geflochtenen Korb sitzen. Er schaukelte vor und zurück. Hing an Seilen, die hinauf zur Decke liefen.
Hirka fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Kam sich wie ein Dummkopf vor.
Sie rutschte zu einer Öffnung am Fußende und setzte die Füße auf einen kühlen Steinboden. Stand auf. Die graue Tunika hatte sich um ihren Körper gewickelt, während sie schlief. Wer hatte sie zu Bett gebracht?
Der Raum war groß. Schwarz. Aus Stein gehauen. Die Wände waren rau und uneben, wie in einer Höhle, aber Decke und Fußboden waren blank poliert. Ein offenbar beabsichtigter Kontrast. Sie blickte hinunter auf ihre Füße und sah ihr Spiegelbild. Als ginge sie auf einem dunklen See.
Es hätte kälter sein müssen. Woher kam die Wärme? Hier waren keine Feuerstellen. Keine Lampen, die brannten. Das bleiche Licht fiel durch eine Glaswand herein. Sie war aus mehreren kleinen Scheiben zusammengesetzt, die sich leicht nach außen wölbten. Sie waren in den Ecken dunkler, mattiert mit etwas, das an Asche erinnerte. Das gab ihr das Gefühl, durch Vogelaugen zu blicken.
Hirka ging zu der Wand und legte die Hand ans Glas. Dann erkannte sie, wo sie war. Sie blickte auf einen Krater. So groß, dass sie fast einen ganzen Tag brauchen würde, um ihn einmal zu umrunden. Seine Wände führten schräg hinab ins Felsgestein, durchlöchert von Häusern.
Sie befand sich ganz oben am Rand. Direkt unter dem Eis. An mehreren Stellen zogen sich Spalten durch die Eisschicht bis hinunter in den Fels. Schluchten. Straßen. Wie die, durch die sie am Abend zuvor gegangen war.
Ginnungad. Die erste Stadt. Die Hauptstadt der Blinden.
Windstöße peitschten Schnee vom Gletscher gegen das Fenster und heulten den Krater hinab. Das war das Geräusch, das sie geweckt hatte. Von dem sie gedacht hatte, es sei das Meer.
Jemand klopfte an. Hirka zuckte zusammen, sich jäh zweier Dinge bewusst: Sie sollte ihre Familie treffen und sie sollte jemanden zum Tode verurteilen.
»Ja?« Sie räusperte sich.
Ǫni kam durch eine Schiebetür herein, die fast nicht von der Wand zu unterscheiden war. Sie wirkte verändert, jetzt, da sie sich hatte zurechtmachen können. Das braune Haar bauschte sich um ihr Gesicht. Sie trug eine Schale mit Brühe, die nach Fisch roch.
Ihre Wangengrübchen vertieften sich. »Du musst uns verzeihen, wir haben nicht gewusst, wie groß dein Bedarf an Essen und Wärme ist.« Hirka nahm die Schale entgegen und trank sie sofort aus. Ǫni wirkte peinlich berührt, und Hirka erinnerte sich. Man nahm vor anderen Leuten keine Nahrung zu sich. Sie wurde rot.
Ǫni zeigte auf eine Regalreihe neben der Tür. »Dort drüben findest du Kleidung. Sachen, die Skerri gehört haben. Natürlich nur, bis wir neue für dich haben anfertigen lassen.«
Hirka sah Skerri in engem Leder mit Schnüren und Spangen vor sich. Sie schüttelte den Kopf. »Danke, aber … ich kann meine eigenen Sachen anziehen.«
Ǫni schürzte die Lippen ein klein wenig. »Kraft und Schönheit soll man sehen. Du kannst dir von den Sachen selbst etwas aussuchen. Das Bad ist dort.« Sie zeigte auf eine Schiebetür direkt gegenüber vom Bett. Dann drehte sie sich um und wollte gehen.
»Ǫni, wie ist das entstanden? Das Loch?« Hirka nickte zum Fenster.
»Da war immer ein Loch, aber es wurde größer, als sie nach der Gabe gegraben haben«, antwortete Ǫni. »Du solltest dich lieber beeilen, sie warten schon alle. Du bist die Jüngste in Modrasmes Haus und keiner von ihnen hat dich bisher zu Gesicht bekommen.«
Ǫni verschwand auf demselben Weg hinaus, auf dem sie gekommen war. Hirka schob die Tür zum Bad auf. Vor ihr führte eine Treppe direkt hinunter ins Wasser. Eine Grube im Boden, groß genug, um ausgestreckt darin zu liegen. Und das Wasser war warm.
Den Göttern sei Dank!
Sie