In Fesseln. John Galsworthy

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Название In Fesseln
Автор произведения John Galsworthy
Жанр Языкознание
Серия Forsyte
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783958131231



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Für einen Moment dachte ich, es wäre – Phil.«

      Der alte Jolyon sah, wie ihre Lippen zitterten. Sie legte ihre Hand über den Mund, nahm sie wieder weg und fuhr dann ruhig fort: »In jener Nacht bin ich zur Themse gegangen. Eine Frau hat mich am Kleid festgehalten. Sie hat mir von sich erzählt. Wenn man vom Leid anderer weiß, schämt man sich.«

      »Eine jener Frauen?«

      Sie nickte und der alte Jolyon spürte Entsetzen, das Entsetzen eines Menschen, der noch nie mit Verzweiflung zu kämpfen hatte. Fast gegen seinen Willen murmelte er: »Erzähl mir, was passiert ist.«

      »Es war mir egal, ob ich lebte oder starb. In diesem Zustand vergeht dem Schicksal die Lust, einen umzubringen. Sie kümmerte sich drei Tage lang um mich – sie blieb die ganze Zeit bei mir. Ich hatte kein Geld. Deshalb helfe ich diesen Frauen nun, wo ich kann.«

      Doch der alte Jolyon dachte: ›Kein Geld!‹ Welches Schicksal ließ sich denn damit vergleichen? Darin war doch jedes andere mit eingeschlossen.

      »Wärst du doch zu mir gekommen«, sagte er. »Warum bist du denn nicht gekommen?« Doch Irene gab keine Antwort.

      »Weil ich den Namen Forsyte trage, nicht? Oder hat June dich davon abgehalten? Wie kommst du jetzt zurecht?« Sein Blick wanderte unwillkürlich über ihren Körper. Vielleicht ging es ihr selbst jetzt noch … Und doch war sie nicht dünn – nicht wirklich!

      »Ach, die fünfzig Pfund, die ich im Jahr verdiene, sind gerade genug.« Diese Antwort beruhigte ihn nicht. Seine Zuversicht war dahin. Und dieser Soames! Doch sein Gerechtigkeitssinn hinderte ihn daran, ihn zu verurteilen. Nein, sie wäre sicherlich eher gestorben, als auch nur noch einen Penny von ihm anzunehmen. So sanft sie auch aussehen mochte, es musste doch Stärke in ihr stecken – Stärke und Treue. Doch was dachte sich der junge Bosinney nur, einfach so überfahren zu werden und sie so mittellos zurückzulassen!

      »Nun, wenn du jetzt irgendetwas brauchst, dann musst du zu mir kommen, sonst wäre ich wirklich enttäuscht.« Und er setzte seinen Zylinder auf und erhob sich. »Komm, lass uns einen Tee trinken. Ich habe dem Faulpelz angeordnet, die Pferde für eine Stunde unterzustellen und mich dann bei dir abzuholen. Lass uns gleich eine Droschke nehmen, ich bin nicht mehr so gut zu Fuß wie früher.«

      Er genoss jenen Spaziergang ans Ende der Kensington Gardens – den Klang ihrer Stimme, ihren Blick, die subtile Schönheit einer bezaubernden Frau neben ihm. Er genoss den Tee bei Ruffel in der High Street und verließ das Café mit einer großen Schachtel Pralinen, die an seinem kleinen Finger baumelte.

      Er genoss die Rückfahrt nach Chelsea in einer Droschke, während der er seine Zigarre rauchte. Sie hatte versprochen, ihn am nächsten Sonntag zu besuchen und wieder für ihn zu spielen, und in Gedanken pflückte er ihr bereits Nelken und erste Rosen, die sie mit in die Stadt nehmen könnte.

      Es war ihm eine Freude, ihr eine kleine Freude zu machen, wenn ein Geschenk von einem alten Kerl wie ihm denn eine Freude war! Die Kutsche stand schon bereit, als sie ankamen. Das war natürlich typisch für diesen Kerl, der sonst immer zu spät war, wenn man ihn brauchte.

      Der alte Jolyon ging noch kurz mit hinein, um sich zu verabschieden. In dem kleinen dunklen Eingangsbereich roch es unangenehm nach Patschuli, und auf einer Bank an der Wand – das einzige Möbelstück dort – sah er jemanden sitzen. Er hörte, wie Irene sanft sagte: »Einen Augenblick.«

      Als sie in dem kleinen Empfangszimmer die Tür hinter sich geschlossen hatten, fragte er ernst: »Eine deiner Schützlinge?«

      »Ja. Dank dir kann ich ihr jetzt helfen.«

      Er stand da, starrte und strich sich über jenes Kinn, das seiner Zeit von so vielen gefürchtet worden war. Die Vorstellung, dass sie tatsächlich Kontakt mit dieser Ausgestoßenen hatte, betrübte und ängstigte ihn. Was konnte sie schon für sie tun? Nichts. Höchstens sich selbst beschmutzen und in Schwierigkeiten bringen. Und er sagte: »Pass auf dich auf, mein Liebes! Die Welt geht immer vom Schlechtesten aus.«

      »Ich weiß.«

      Ihr ruhiges Lächeln machte ihn verlegen. »Also dann – Sonntag«, murmelte er. »Mach’s gut.«

      Sie streckte ihm ihre Wange für einen Kuss entgegen.

      »Mach’s gut«, sagte er noch einmal. »Pass auf dich auf.« Und dann ging er hinaus, ohne zu der Gestalt auf der Bank zu schauen. Er fuhr über Hammersmith nach Hause, um bei einem Laden Halt zu ­machen, den er kannte, und anzuordnen, dass sie zwei Dutzend ihres besten Burgunders zu ihr schicken sollten. Sie brauchte doch ab und an eine kleine Aufmunterung! Erst als er schon im Richmond Park war, fiel ihm ein, dass er sich ja neue Stiefel hatte kaufen wollen, und er war überrascht, wie er auf eine so lächerliche Idee hatte kommen können.

      Die kleinen Geister der Vergangenheit, vor denen die Tage eines alten Menschen wimmeln, hatten ihre Gesichter nie zuvor so selten hoch zu seinem gedrängt wie in den siebzig Stunden bis zum Sonntag. Der Geist der Zukunft streckte ihm stattdessen mit dem Reiz des Unbekannten die Lippen entgegen. Der alte Jolyon war nun nicht mehr unruhig und ging auch nicht mehr zu dem Baumstamm, denn sie würde zum Mittagessen kommen. Ein Essen hat etwas wunderbar Endgültiges, es wischt eine Welt der Zweifel beiseite, denn niemand lässt ein Essen ausfallen, es sei denn aus Gründen, die außerhalb seiner Macht stehen. Er spielte viel mit Holly auf dem Rasen, warf ihr die Bälle zu, damit sie jetzt das Schlagen üben konnte, um dann in den Ferien Jollys Werfer sein zu können. Denn sie war zwar keine Forsyte, doch Jolly war einer – und Forsytes sind immer die Schlagmänner, bis sie mit fünfundachtzig von ihrem Posten zurücktreten.

      Der Hund Balthasar war auch immer dabei und legte sich so oft wie möglich auf den Ball, und der Balljunge warf ihr die Bälle zurück, bis sein Gesicht aussah wie der Erntemond. Und weil die Zeit kürzer wurde, wurde jeder Tag länger und glücklicher als der Tag zuvor. Freitagabend nahm er eine Lebertablette, der Schmerz war recht stark, und es war zwar nicht die Seite, auf der die Leber war, aber es gab kein besseres Heilmittel.

      Jeder, der ihm gesagt hätte, er habe etwas gefunden, das sein Leben wieder aufregender machte, und dass diese Aufregung nicht gut für ihn sei, der hätte einen jener festen und recht trotzigen ­Blicke seiner tiefliegenden stahlgrauen Augen abbekommen, die zu sagen schienen: ›Meine Angelegenheiten kann ich selbst ja wohl am besten regeln.‹ Das war immer so gewesen und das würde auch immer so sein.

      Sonntagmorgen, als Holly mit ihrer Gouvernante in der Kirche war, stattete er den Erdbeerfeldern einen Besuch ab. Begleitet von dem Hund Balthasar untersuchte er die Pflanzen gründlich und konnte mindestens zwei Dutzend Beeren finden, die wirklich reif waren. Das Bücken war nicht gut für ihn, ihm wurde ganz schwindlig und sein Gesicht lief rot an. Nachdem er die Erdbeeren in einer Schüssel auf dem Esstisch platziert hatte, wusch er sich die Hände und benetzte seine Stirn mit Eau de Cologne. Als er so vor dem Spiegel stand, fiel ihm auf, dass er abgenommen hatte.

      Was für eine ›Bohnenstange‹ er doch als junger Mann gewesen war! Es war schön, schlank zu sein – einen fetten Kerl fand er unmöglich. Und doch waren seine Wangen vielleicht zu schmal! Sie sollte mit dem Zug um halb eins kommen und über die Straße, die an Drages Hof vorbeiging, aus der anderen Richtung durch das Wäldchen nach oben laufen. Und nachdem er in Junes Zimmer gesehen hatte, um zu kontrollieren, ob heißes Wasser bereitstand, machte er sich auf den Weg, um ihr entgegenzulaufen, gemächlich, denn sein Herz pochte.

      Die Luft roch süß, Lerchen sangen und man konnte die Tribüne von Epsom sehen. Ein perfekter Tag! Bestimmt war Soames an genau so einem Tag vor sechs Jahren mit Bosinney hierhergekommen, um das Grundstück anzuschauen, bevor sie anfingen, zu bauen. Bosinney war es gewesen, der den genauen Platz für das Haus gewählt hatte – das hatte June ihm oft erzählt.

      In letzter Zeit dachte er viel an jenen jungen Kerl, als ob sein Geist tatsächlich am Ort seines letzten Werkes umherspuken würde ‒ in der Hoffnung, sie dort zu sehen. Bosinney – der einzige Mann, dem ihr Herz gehört hatte, dem sie sich voll und ganz leidenschaftlich hingegeben hatte! In seinem Alter konnte man sich so etwas natürlich nicht vorstellen, aber er verspürte einen seltsamen vagen