Teufelsmord - Ein Fall für Julia Wagner: Band 1. Tanja Noy

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Название Teufelsmord - Ein Fall für Julia Wagner: Band 1
Автор произведения Tanja Noy
Жанр Языкознание
Серия Ein Fall für Julia Wagner
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788726643060



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fand er die Beziehung zwischen ihm und seiner Tochter mehr als ungesund, was er allerdings nie aussprach. Er war schlau genug und hatte auf den ersten Blick erkannt, dass er Dina nur noch weiter in Eddies Arme getrieben hätte, hätte er gegen ihn vom Leder gezogen. Also war ihm nichts anderes übrig geblieben, als Eddie gegenüber gestelzt liebenswürdig zu sein und lediglich wie besessen zu husten, wenn er unzufrieden mit der Situation war. Da er ständig unzufrieden war, hustete er beinahe ununterbrochen. Als er dann erfuhr, dass Dina und Eddie heiraten wollten, kam er aus dem Husten gar nicht mehr heraus. Das würde nicht gut gehen. Und bereits die Hochzeit hatte die schlimmsten Befürchtungen auch schon bestätigt.

      Eddie war schon bald nach der Trauung nicht mehr in der besten Laune, denn er hatte überhaupt keine Lust auf das ganze „Wittenroder Pack“. Er wollte so schnell wie möglich mit Dina allein sein und sie sich nehmen. Immerhin hatte er ja lange genug darauf gewartet. Deshalb pfiff er auf jede Diplomatie, betrank sich zuerst maßlos und bot den Hochzeitsgästen dann ein Schauspiel, indem er ihnen betrunken entgegenschrie, dass er und Dina jetzt nach Hause gingen, weil er „Lust zu ficken“ hätte. Kurz darauf war er mit ihr verschwunden und riss ihr zu Hause auch tatsächlich wenig romantisch den Schlüpfer herunter, um sie zu entjungfern.

      Ob Dina sich ihre Hochzeitsnacht anders vorgestellt hatte, das wusste Eddie nicht. Er hatte sie nicht gefragt. Das tat er bis heute nicht. Wenn er Lust hatte oder sich langweilte, dann war sie zur Stelle. Sie war schließlich seine Frau.

      Zusammengefasst könnte man sagen: Eddie liebte Dina gnadenlos und launisch.

      Warum sie, die sie doch eigentlich eine grundehrbare und vernünftige Person war, ihn, der er sie beinahe von Anfang an auf jede nur erdenkliche Art und Weise hinterging, nicht längst verlassen hatte, das überstieg die Vorstellungskraft jedes logisch denkenden Menschen. Jedes Menschen, außer Eddie, denn der dachte über so etwas nicht nach. Es kam ihm nicht einmal in den Sinn, dass die Ehe für Dina schon lange ein Albtraum sein könnte. Noch nicht einmal in dem Moment, in dem sie ihn auf dem alljährlichen Schützenfest hinter einer der Schießbuden dabei erwischt hatte, wie er es mit heruntergelassenen Hosen heftig mit einer anderen Frau trieb … noch nicht einmal da bemerkte Eddie die Anzeichen in ihren Augen. Und dabei hatte er ihr damit zum ersten Mal nicht wie üblich nur einen Nadelstich, sondern gleich einen ganzen Keulenschlag versetzt.

      Aber so ist das eben, wenn sich ein Mensch für den Mittelpunkt des Universums hält. Für Eddie war klar, dass es gut war, so wie es war, und dass er und Dina sich niemals trennen würden. Diese Ehe würde nichts und niemand auseinanderbringen.

      Zugegeben, dies alles hatte wenig mit Liebe zu tun. Es ging um Besitz. Dina gehörte Eddie, so sah er es und so benahm er sich. Sie gehörte ihm und weiter dachte er nicht darüber nach.

      Noch nicht.

      6. KAPITEL

      Geister der Vergangenheit

      Norbert Kämmerer, der ehemalige Polizeichef von Hannover, saß in seinem Wohnzimmer, in einem Sessel, und schloss verzweifelt die Augen. Inzwischen war er stolze 86 Jahre alt und alleine. Statt seiner Frau, die schon viele Jahre tot war, hatte längst ein anderes Wesen die Räume bezogen. Ein Wesen, das nach ihm rief und dessen Schritte auf den Dielen knarrten.

      Akustische Halluzinationen. So hatte der Arzt es genannt. Bei älteren Menschen wäre das keine Seltenheit. Kämmerer jedoch wusste, dass es etwas anderes war. Er wusste, dass es irgendwo dort draußen einen Menschen mit einer unerledigten Aufgabe gab. Die Bestätigung dafür hatte er erhalten, als er heute in der Zeitung von dem erneuten Mord in Wittenrode gelesen hatte. Und jetzt ließ es ihn erst recht nicht mehr los.

      Er hatte immer mit der Angst gelebt. Angst davor, dass das, was in seinem Kopf vor sich ging, eines Tages Wirklichkeit werden könnte. Und jetzt war es so weit.

      Kein Frieden mehr zu schließen.

      Mit niemandem.

      Julia fuhr zur selben Zeit von Osten her auf Wittenrode zu und dachte darüber nach, dass das Sterben eine einsame Sache war.

      Sie war schon vier Stunden unterwegs, es regnete in Strömen, die Scheibenwischer des Wagens waren auf maximale Geschwindigkeit eingestellt und dem heftigen Regen trotzdem kaum gewachsen. Die Heizung war ausgefallen und sie fror. Es war kurz vor 17:00 Uhr und die Scheinwerfer konnten das Dunkel des elend frühen Abends kaum durchdringen. Um sich weiter abzulenken, fügte Julia in Gedanken hinzu: Das Leben ist nicht weniger einsam. Und die Liebe? Erst recht nicht.

      Sie hatte Hannover erst wenige Kilometer hinter sich gelassen und war trotzdem schon mitten auf dem Land, fuhr an Schildern vorbei mit Namen, an die sie sich vage erinnerte, über Straßen, die immer noch dieselben Schotterpisten waren wie früher. Und so wusste Julia auch, was gleich kam. Ihr Herz begann schneller zu schlagen und dann sah sie das Schild: Wittenrode 2 km. Sie bremste ab, nahm die nächste Kurve, und plötzlich überkam sie eine Erinnerung. Die Erinnerung daran, wie sie mit ihren Eltern an genau demselben Schild vorbeigefahren war, vor mindestens fünfundzwanzig Jahren, im Sommer, auf den Wittenroder See zu. Sie glaubte, das Lachen ihrer Eltern zu hören, was der schönste Teil der Erinnerung war, das unbekümmerte Lachen. Julia wunderte sich, wie klar es in ihr Gedächtnis eingebrannt war und wie lebendig ihre Eltern für diesen kurzen Augenblick schienen. Sie blieben so lange, wie sie an dem Schild vorbeifuhr.

      Dann fiel das Bild in sich zusammen und einmal mehr schwappten Wut und Zorn in Julia hoch wie eine Flut, die sich Welle für Welle in Richtung Deichkrone kämpfte. Sie spürte es als körperliche Schmerzen, als ein Nagen im Bauch, ein Ziehen im Kopf.

      In der ersten Zeit nach dem Unfall hatte sie sich eingeredet, ihre Eltern wären nicht wirklich tot. Sie war fest davon überzeugt, dass alles nur ein schrecklicher Irrtum war. Ihre Eltern waren am Leben und warteten zu Hause auf sie. Ja, Julia war davon überzeugt gewesen, dass sie ihre Eltern antreffen würde, wenn man sie nur zurück nach Hause gelassen hätte. Aber man ließ sie nicht. Und spätestens bei der Beerdigung hatte sie den Glauben daran dann auch endgültig verloren. Und auch allen anderen Glauben.

      Julia zwang sich in die Realität zurück. Gleich würde es dort oben auf dem Berg zu sehen sein. Sie sah nach oben und, ja, da war es. Gelbe Lichter gaben sich alle Mühe, über den dichten Regen hinweg zu leuchten, und sie stellte fest, dass das große Haus immer noch genauso beeindruckend war wie früher. Etwas weiter links befand sich die alte Burgruine und dazwischen die kleine alte Kapelle.

      So lange Julia denken konnte, gab es dieses Bild, standen das Waisenhaus, die Kapelle und die verwitterte Burg nebeneinander dort oben. Der Wagen kam gefährlich ins Schleudern und sie fluchte: „Scheiße, verdammte!“ Der Fluch galt der ganzen Welt, aber vor allem dem Waisenhaus, und als sie einen Gang herunterschaltete, fiel ihr auf, dass aus dem Zittern ihrer rechten Hand mittlerweile eine tiefe Lähmung geworden war. Der Linken wäre es nicht besser ergangen, hielte sie nicht mit weißen Knöcheln das Lenkrad umklammert.

      Jeder in dieser Gegend wusste, dass das Haus dort oben stand und was es zu bedeuten hatte. Doch es wurde ignoriert. Geleugnet. Ein unsichtbares Haus. Ein Haus, von dem alle nur hinter vorgehaltener Hand sprachen. Ein Haus, in dem so manches Kind verschwunden war. Für Jahre.

      Natürlich wusste Julia, dass sie unfair war. Die Menschen dort oben waren gute Menschen. Sie hatten alles für sie getan – und nicht nur für sie – und nichts dafür erwartet. Sie hatten es ihr ermöglicht, ihr Leben sinnvoll zu gestalten. Eben das Beste aus dem zu machen, was ihr geblieben war. Sie hatte lange aufbegehrt und doch irgendwann verstanden, dass sie Kompromisse eingehen musste. Und so fühlte sich ihre Erinnerung ab einem bestimmten Zeitpunkt an wie die anderer Menschen auch: verschiedene Stationen des Lebens, von Zufällen bestimmt, vielleicht auch vom Schicksal beeinflusst, irgendwo zwischen neurotisch und normal, zwischen gewöhnlich und verzweifelt. Sie hatte all die Dinge getan, die niemand tun sollte und die doch jeder tat. Sie fühlte sich schuldig und auch wieder nicht. Und dann, mit achtzehn, war sie förmlich aus dem Waisenhaus geflohen. War nach Hannover gegangen, zur Polizei. Nur weg von Wittenrode und all dem …

      Vierzehn Jahre war das inzwischen her. Und nun war sie wieder hier. Ein ganz merkwürdiges Gefühl. Als wäre sie nie weg gewesen.

      Und