Folgsam blickte Elena wieder auf das Handy.
»Tut mir leid, dass ich Dich so lange warten ließ. Wegen einer Verletzung musste ich in die Behnisch-Klinik. Leider gibt es dort kein frei zugängliches Internet, sodass ich Dich warten lassen musste.« Elena schnappte nach Luft. »Die rothaarige Amazone?«
Matthias Weigand nickte düster.
»Irgendwie ist das Gespräch auf Internet-Portale gekommen. In diesem Zusammenhang hat sie mir erzählt, dass sie sich mit einem alten Foto dort angemeldet hat, um für einen Artikel zu recherchieren.«
»Und du hast unfreiwillig den Lockvogel gespielt.« Elena konnte sich ein Kichern nicht verkneifen.
»Ich wüsste nicht, was daran so lustig ist«, schimpfte Matthias und nahm ihr das Handy aus der Hand.
»Ganz einfach.« Sie kam auf ihn zu, beugte sich über ihn und legte ihm die Arme um den Hals. »Offenbar hast du es mit der Wahrheit auch nicht allzu genau genommen. Sonst hätte sie dich ja erkannt«, sagte sie ihm auf den Kopf zu. »Gib es zu: Wie alt ist das Foto, das du veröffentlicht hast?«
»Höchstens drei oder vier Jahre«, murrte Matthias. »Vielleicht auch fünf.«
»Und warum hat sie dich nicht erkannt?«, säuselte Elena weiter.
Matthias wich ihrem Blick aus.
»Vielleicht, weil ich einen Bart und Sonnenbrille trage«, gestand er unwillig. »Warum schaust du so? Sollte ich vielleicht riskieren, von einer Patientin erkannt zu werden?«
Lachend drückte Elena ihm einen Kuss auf die Wange und richtete sich wieder auf.
»Ich glaube, ihr seid quitt.« Sie steckte die Hände in die Kitteltaschen. »Wie soll es jetzt weitergehen?«
»Gar nicht. Wieso fragst du?«
»Irgendwas musst du ihr doch antworten«, gab sie zu bedenken. »Mal abgesehen davon habe ich ganz genau gemerkt, dass sie dir gefällt. Auch wenn sie ein bisschen zu alt für dich ist.« Sie zwinkerte ihm zu, ehe sie wieder zu ihrer Arbeit zurückkehrte.
»Niemals!«, widersprach ihr Kollege energisch. »Sie ist nett, aber leider überhaupt nicht mein Typ.«
Ohne ein weiteres Wort griff Elena nach dem Koffer mit dem sterilisierten Besteck und machte sich auf den Weg.
Dr. Matthias Weigand blieb noch einen Moment sitzen und ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen. Er war froh, als ihn ein durchdringendes Piepen aus den Gedanken riss.
»Arbeit ist doch die bessere Alternative«, brummte er auf dem Weg in die Ambulanz. »Mit stumpfen Bauchtraumen und Knochenbrüchen kenne ich mich aus. Aber mit Herzbeschwerden habe ich so meine Probleme.«
*
Alexa Quadt stand an der Tür des Intensivzimmers. Mit verkniffener Miene sah sie ihrer Schwester dabei zu, wie sie Leos Hand hielt und unablässig streichelte.
Irgendwann spürte Nicole, dass sie beobachtet wurde, und hob den Kopf. Als sie Alexandra erblickte, dachte sie kurz nach. Sie legte Leos Hand behutsam zurück auf die Bettdecke und kam an die Tür.
»Gibt es schon Ergebnisse?«
Alexa schüttelte den Kopf.
»Sobald Dr. Norden etwas hat, sagt er Bescheid.«
Nicole nickte und sah zu Boden. Es war offensichtlich, dass sie mit sich kämpfte. Auf einmal warf sie den Kopf in den Nacken und ließ ihrem Zorn freien Lauf.
»Wie konnte das überhaupt passieren? Warum ist Leo von einem Jägerstand gefallen? Wenn du mir schon das Kind wegnimmst, kannst du wenigstens darauf aufpassen!«
Wie von einem Peitschenhieb getroffen, zuckte Alexandra zusammen.
»Du unterstellst mir, dass ich Leo vernachlässigt habe?«, fragte sie fassungslos. »Wer hat sich denn bis zum heutigen Tag nicht um seinen Sohn gekümmert? Kein einziges Mal angerufen oder nachgefragt? Du und Bertram, ihr habt mich ganz allein gelassen.« Alexandras Atem ging schnell. Feine Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn. »Wahrscheinlich habt ihr diesen Plan schon vor der ganzen Sache mit Leo ausgeheckt. Und jetzt soll ich die Böse sein? Nein! Das lasse ich mir nicht in die Schuhe schieben!«
Angelockt von dem Lärm kam Bertram herbei geeilt. Er hatte in einem Nebenraum gewartet.
»Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?«, herrschte er die beiden Frauen an. »Hier liegen schwerkranke Menschen.«
Alexa holte tief Luft, als wollte sie noch einmal aufbegehren. Doch plötzlich sank sie in sich zusammen. Sie hatte ihr Pulver verschossen.
»Natürlich. Tut mir leid«, murmelte sie. Sie wandte sich ab und ging davon.
Bertram fasste Nicole am Ellbogen und folgte Alexa. Sie hatte die Intensivstation verlassen und wartete auf dem Flur auf die beiden.
Eine Weile standen sie sich schweigend gegenüber.
»Als ich gerade bei Leo am Bett stand, ist mir klar geworden, dass ich ihn nie hätte verlassen dürfen«, erklärte Nicole endlich mit tränenerstickter Stimme. Sie suchte nach einem Taschentuch und nahm dankbar die Packung, die Bertram ihr reichte. »Ich hätte um ihn kämpfen müssen.«
Alexandra sah so aus, als hätte sie sich am liebsten auf sie gestürzt.
»Hast du denn immer noch nicht genug? Reicht dir mein Mann nicht? Willst du mir auch noch das Letzte wegnehmen, was mir lieb und teuer ist?«, setzte sie sich verzweifelt zur Wehr.
Nicole funkelte sie wütend an.
»Wessen Idee war das denn mit der Affäre?« Sie dachte nicht daran, diese Anschuldigung auf sich sitzen zu lassen. »Du selbst hast deinen Mann doch in meine Arme getrieben!«
»Vielleicht, weil ich gespürt habe, dass euch mehr verbindet, als mir lieb ist.«
»Schluss jetzt!« Bevor sich die Schwestern die Augen auskratzen konnten, ging Bertram mit einem Machtwort dazwischen. »Hört endlich auf mit diesen alten Geschichten! Sie spielen keine Rolle mehr. Das Einzige, was zählt, ist Leo. Wir sind hier, um sein Leben zu retten. Und wir können nur beten, dass einer von uns«, er sah seine Frau durchdringend an, »als Spender geeignet ist.«
Heftig atmend standen sich Alexandra und Nicole gegenüber. Jede der beiden haderte mit sich, den ersten Schritt zu tun. In dem Moment, in dem Alexa ihrer Schwester die Hand reichen wollte, wurde die Tür zur Intensivstation aufgerissen.
»Hier stecken Sie!« Dr. Danny Norden hatte die ganze Station nach Leos Familie abgesucht. »Wir haben die Ergebnisse.«
Schlagartig war der Streit vergessen. Alle Aufmerksamkeit gehörte dem jungen Arzt.
»Und?«, ertönte es in schönster Eintracht aus aller Munde.
Dannys Blick fiel auf Bertram.
»Ihre Werte passen perfekt zu denen von Leo, Herr Quadt. Wenn Sie damit einverstanden sind, würden wir noch heute operieren.«
Instinktiv griff Nicole nach der Hand ihres Mannes. Doch Bertram Quadt zögerte nicht.
»Natürlich. Ich bin froh, wenn ich Leo helfen kann.« Er schickte Alexandra einen durchdringenden Blick, bis Danny Norden zur Eile drängte.
*
Daniel und Fee Norden hatten den Rest des Nachmittags zu einem Spaziergang genutzt und waren am Ende im Café ›Schöne Aussichten‹ eingekehrt. Tatjana war nicht da.
Doch die Aushilfskraft Marla hatte alles im Griff und servierte gut gelaunt sämtliche Köstlichkeiten, die Backstube, Getränkekühlschrank und Kaffeemaschine hergaben. Nach dem Kuchen am Nachmittag entschieden sich die Nordens für Gemüsequiche und Rhabarberschorle. Während sie aßen, unterhielten sie sich – wie so oft in letzter Zeit – über Daniels neue Herausforderung als Chef der Behnisch-Klinik.
»Machst du dir immer noch Gedanken über Fuchs’ Vorschlag, die Klinik in das Gesundheitszentrum