Die Stadt der Regenfresser. Thomas Thiemeyer

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Название Die Stadt der Regenfresser
Автор произведения Thomas Thiemeyer
Жанр Книги для детей: прочее
Серия Die Chroniken der Weltensucher
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783948093297



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bis unter die Decke mit Büchern gefüllt waren. Oskar trat näher und entdeckte verschiedene Zyklen aufwendig in Leder gebundener Werke. Lexika oder etwas Ähnliches. Daneben standen Bücher, bei denen es sich offenkundig um Kartenwerke und Reisebeschreibungen handelte. Bücher, auf deren Einband Windrosen, Wappen und Kontinente geprägt waren. Daneben Aberdutzende Karten aller Größen und Formen. Große, kleine, gerollte und hängende, Weltkarten, Landkarten, geologische Karten und Seekarten.

      Er begann sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass der Mann vielleicht doch nicht der wahnsinnige Irre war, für den er ihn gehalten hatte. Offenbar verfügte er über Bildung und ein beträchtliches Vermögen. Einen Schatz wie diesen hatte Oskar jedenfalls noch nirgends gesehen, nicht mal in der Stadtbibliothek.

      Oskar hatte eine Schwäche für spannende Erzählungen. Ritterromane, Piratengeschichten, Abenteuer in fremden Ländern. Mit Karl May hatte er sich durch das wilde Kurdistan geträumt und mit Jules Verne 20 000 Meilen unter die Meeresoberfläche. So konnte er seinem Dasein als kleiner Gauner auf den Berliner Straßen für eine Weile entfliehen. Viele Abenteuerromane erschienen in Fortsetzungen in der Berliner Illustrirten Zeitung, die Oskar bei Hannah im ›Alten Zollhaus‹ lesen konnte. Manchmal investierte er einen Teil seiner Beute in Bücher, die er zu Hause in seiner Bude lagerte. Einige hatte er natürlich auch gestohlen, aber die meisten ehrbar erworben. Bücher waren etwas, wovor er Respekt hatte, und hier gab es mehr davon, als er je in seinem Leben auf einem Haufen gesehen hatte. Auch wenn es sich um Sachliteratur handelte, so waren es doch immer noch Bücher. Was war das nur für ein Mann, der Straßenjungen entführte und so viele Bücher besaß?

      Dominiert wurde der Raum von einem gewaltigen, in einem hölzernen Rahmen befindlichen Globus. Einer Weltkugel von solch ehrfurchtgebietenden Proportionen, dass ihr Gewicht gar nicht abzuschätzen war. Gerne hätte Oskar sie in Drehung versetzt, aber die Haushälterin war schon weitergegangen und wartete in der Eingangshalle auf ihn.

      Dieser Raum war von allen der beeindruckendste. Spätestens jetzt war Oskar überzeugt, in das Haus irgendeiner hochgestellten Persönlichkeit geraten zu sein. Die Wände waren mit dunklem Holz getäfelt und in regelmäßigen Abständen waren Kerzenhalter befestigt. Zwei mächtige, geschnitzte Holzsäulen trugen eine gewölbte Decke, die mindestens vier Meter hoch war. Auf ihr waren Naturszenen zu sehen. Berge, Wasserfälle, dichter Dschungel und weite Wüsten. Bilder, wie er sie sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorzustellen gewagt hatte. An den Wänden befanden sich präparierte Tierköpfe aus aller Herren Länder. Elefanten, Nashörner und Tiger, aber auch kleinere Tiere wie Antilopen, Schakale und Luchse. Viele kannte er aus dem Tierpark, manche waren ihm völlig unbekannt. Staunend und mit offenem Mund stand er einfach da und blickte nach oben. Offenbar hatte der Herr dieses Hauses die ganze Welt bereist. Vor seinem geistigen Auge erschien die Person des Allan Quatermain, des Bezwingers von Afrika, des Entdeckers von König Salomons Minen. Konnte es sein, dass ihn das Schicksal direkt in die Arme des Abenteuers geführt hatte?

      Oskar riss sich von dem Anblick los. Er durfte jetzt nicht unvorsichtig werden. Er war betäubt worden, entführt und gefesselt, und solange er dafür keine einleuchtende Erklärung erhalten hatte, lautete sein oberstes Ziel Flucht.

      Eine breite Eichentreppe führte in weitem Bogen nach oben. Eliza winkte ihm zu. »Komm, mein Junge. Du solltest deinen Gastgeber nicht warten lassen.« Sie nahm seine Hand und geleitete ihn in den ersten Stock. Dort, am Ende eines langen Flurs, blieben sie stehen. Sie klopfte an eine Tür, dann trat sie, ohne eine Antwort von innen abzuwarten, ein.

      Der Raum war groß und warm. Im Kamin prasselte ein Feuer. Durch die Fenster konnte man einen Blick auf Parkanlagen erhaschen. Es war Abend und hinter den Bäumen versank feuerrot die Sonne.

      Hinter einem riesigen Schreibtisch aus dunklem Kirschholz saß ein Mann, der in ein dickes, ledergebundenes Buch vertieft war. Oskar hielt den Atem an. Die wasserblauen Augen, die buschigen Brauen und die Brille gehörten unverkennbar seinem Entführer. Trotzdem wirkte er verändert. War er bei ihrer ersten Begegnung noch in düsteres Schwarz gehüllt gewesen, hatte er sich nun für eine Kombination freundlicherer Farben entschieden. Er trug eine knielange, reich bestickte Jacke aus weinrotem Samt, darunter bequeme, weite Stoffhosen und hellbraune Wildlederschuhe. Seine Haare hingen in einem Zopf über der linken Schulter. Beinahe wie bei einem Chinesen.

      Als sie eintraten, hob der Mann den Kopf. Mit einem Knall schlug er das Buch zu und schob es auf die Seite. »Komm rein«, sagte er mit einer Stimme, die zwar immer noch barsch klang, aber deutlich freundlicher als noch vorhin auf der Straße. »Ich sehe, du bist wieder wohlauf? Gut so.« Er räusperte sich und ging zu einem Schrank hinüber, in dem etliche Flaschen aufgereiht standen. »Was möchtest du? Wasser? Tee? Vielleicht einen Branntwein?« Er blickte kurz zu Eliza hinüber, die entschieden den Kopf schüttelte. »Nein, keinen Branntwein. Milch. Wie wäre es mit einem Glas Milch?«

      Oskar setzte ein Pokergesicht auf. Die ganze Situation war äußerst merkwürdig. Eine seltsame Mischung aus Furcht und Faszination befiel ihn. Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.

      »Gar nichts? Was dagegen, wenn ich mir einen genehmige?« Der Mann nahm sich ein Glas und schüttete etwas von einer bräunlichen Flüssigkeit hinein, vermutlich etwas Hochprozentiges. Er nahm einen Schluck. »Setz dich«, sagte er und deutete auf ein breites Sofa gegenüber dem Tisch. Oskar blickte argwöhnisch zu Eliza. Als diese ihm zu verstehen gab, dass es in Ordnung wäre, ließ er sich steif auf den weichen Kissen nieder. Er versank beinahe darin.

      »Schon besser«, sagte der Mann. »Du fragst dich sicher, wo du bist und was ich von dir will, habe ich recht? Du sollst es erfahren, doch zunächst mal möchte ich damit beginnen, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Humboldt. Carl Friedrich von Humboldt. Und wie heißt du?«

      »Oskar Wegener.«

      Sein Gastgeber deutete ein Nicken an. »Freut mich, dich kennenzulernen, mein Junge. Willkommen in meinem Heim.«

      Oskar setzte einen skeptischen Blick auf. Wieso war der plötzlich so freundlich? »Ist Ihr Name wirklich Humboldt? So wie der berühmte Entdecker?«

      »Du sprichst vermutlich von Alexander von Humboldt, meinem Vater.« Er warf Oskar einen kurzen Blick über den Rand seiner Brille zu. »Genau wie er darf ich mich in aller Bescheidenheit einen Naturforscher nennen. Du weißt doch sicher, was das ist?«

      »Natürlich.« Oskar reckte sein Kinn vor. »Jemand, der Schmetterlinge auf Nadeln spießt und sie dann in einen Schaukasten steckt.«

      Der Mann versteifte sich. »Ja, hm. Unter anderem auch das – wenn es die Forschung verlangt. Wobei das eher nicht zu meinem Tätigkeitsbereich gehört. In bin in erster Linie Entdecker. Ich bereise Orte, die zuvor noch nie erforscht wurden, beschreibe und kartografiere sie, sammele und beobachte die Flora und Fauna und stelle mein Wissen der Allgemeinheit zur Verfügung.« Er deutete auf das schwere, ledergebundene Buch auf dem Tisch. »Was du hier siehst, ist der erste Band einer umfangreichen Enzyklopädie, an der ich gerade arbeite und die ich eines Tages zu veröffentlichen gedenke. Es wird das Standardwerk des neuen Jahrhunderts werden. Ein Lexikon für jedermann. Kompakt, umfassend und erschwinglich. Nicht nur etwas für die verkopften Professoren an unseren Universitäten. Ein aufgeklärtes Werk für aufgeklärte Denker.« Er trank den Rest und stellte sein Glas lautstark auf dem Tisch ab. »Ehe ich es herausgebe, werden allerdings noch einige Jahre ins Land gehen. Noch ist die Welt nicht bereit für dieses Werk. Noch gibt es zu viele Personen, die es lieber verbieten lassen würden. Holzköpfe, die noch nie einen Schritt vor die eigene Tür unternommen oder einen Blick über die Hecken ihres mickrigen Vorgartens getan haben, die uns aber erzählen wollen, wie die Welt funktioniert. Ich habe vor, ihnen gehörig den Wind aus den Segeln zu nehmen.«

      »Und was wollen Sie von mir?«, fragte Oskar herausfordernd.

      Humboldt hob die Augenbrauen. »Du hast mich bestohlen, schon vergessen?«

      Aha, jetzt war es mit der Freundlichkeit vorbei. Oskar schluckte. »Verstehe. Dann werden Sie mich jetzt der Gendarmerie übergeben?«

      »Nein.«

      »Nicht?« Oskar war verblüfft. Es dauerte eine Weile, dann fragte er vorsichtig: »Was dann?«

      Der