Sand im Dekolleté. Micha Krämer

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Название Sand im Dekolleté
Автор произведения Micha Krämer
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783827183958



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spürte ebenfalls, wie sich ihr Puls beschleunigte. Gespielt ruhig öffnete sie die oberste Schublade ihres Schreibtisches, in der sich die kleine Dose Pfefferspray befand, die sie schon seit Jahren besaß aber noch nie benutzt hatte.

      „Was ist jetzt? Schauen Sie nach oder muss ich mich über Sie beschweren“, schrie der Psychopath nun sogar.

      „Nein, dat Mariechen tut nit nachschauen tun und du Vogel … du tust am besten den Abgang machen tun, bevor ich mich vergessen tun“, ertönte zum Glück mit einem Mal die Stimme ihres Papas von der Eingangstür her. Gina Marie legte die Spraydose zurück und schob die Schublade zu.

      „Und wer sind Sie, dass Sie meinen, mir etwas befehlen zu dürfen“, fragte von Gerau nun auch noch frech und baute sich vor Martin auf. Gina Marie konnte sich nicht erinnern, ihren Vater einmal richtig böse erlebt zu haben. Martin war eine Seele von Mensch. Doch gerade war da ein Gesichtsausdruck an ihm, der ihr vollkommen fremd war.

      „Martin, lass es bitte“, mischte sich nun Annemarie ein, die gerade ebenfalls mit Lumpi an der Leine das Office betrat.

      „Und Sie gehen besser, bevor ich die Polizei rufe“, sagte sie an Herrn von Gerau gewandt und ging dann an ihm vorbei zu ihrem Schreibtisch, wo sie der knurrenden Lumpi befahl, Platz zu machen. Von Gerau war über die lässige Art der Chefin wohl so erstaunt, dass er sich nach einem Moment des Schweigens auf dem Absatz umdrehte und dann beinahe fluchtartig das Büro verließ.

      „Das werden Sie noch bereuen, Sie …“, waren die letzten Worte, die Gina Marie noch verstehen konnte, bevor die Türe krachend ins Schloss fiel. Leute gab das – unfassbar.

      *

      Die Hände in den Jackentaschen versenkt, stand Kriminalhauptkommissar Willi Bogner am Strand und beobachtete jeden Handgriff von Doktor Jan Martin Bechersheim. Der junge Arzt machte das, was er tat, gründlich und gewissenhaft. Es war nicht das erste Mal, dass er mit ihm zusammenarbeiten und sich auf seine Kompetenz verlassen musste.

      „Ich würde sagen, der Tod ist irgendwann zwischen ein und zwei Uhr morgens eingetreten“, meinte Bechersheim und betrachtete noch einmal die Würgemale am Hals.

      „Und Sie, Sie sind meiner Meinung, dass sie erdrosselt wurde?“, fragte Willi noch einmal nach.

      „Ja, auf den ersten Blick würde ich dies ohne zu zögern bestätigen“, erwiderte der Arzt und erhob sich.

      „Und auf den zweiten“, fragte Willi noch einmal nach, da er glaubte, dass Bechersheim die Frage erwartete.

      „Den zweiten Blick werden die Kollegen von der Gerichtsmedizin wohl bei der Obduktion wagen müssen. Ich bin an dieser Stelle raus. Für mehr als ein Kreuz auf dem Totenschein, bei ‚unnatürliche Todesursache‘ bin ich nicht zuständig“, bestätigte der Arzt, was Willi auch so wusste.

      „Ich weiß, Herr Doktor Bechersheim. Ich bin ja schon froh, dass Sie meine Vermutungen bezüglich des Todeszeitpunktes bestätigt haben. Das hilft uns schon ungemein weiter“, lobte Willi ihn.

      „Sie hatten also schon eine eigene Meinung bezüglich der Zeit?“, fragte der Arzt verwundert.

      Willi winkte ab.

      „Glauben Sie mir, Doktor … ich habe in den letzten Jahren so viele Tote gesehen … da bekommt man dann schon ein Auge dafür“, gab er nicht ganz ohne Stolz zum Besten. Ja, Willi hatte viel gesehen in den letzten Jahren bei der Mordermittlung. Fast jeden Tag kreuzten Verstorbene seinen Weg. Die wenigsten von ihnen waren ermordet worden. Nein, zumeist handelte es sich um Menschen, bei denen die Umstände auf den ersten Blick mysteriös schienen. Zum Beispiel, wenn junge Menschen ohne vermeintliche Vorerkrankungen starben. Wenn alte Menschen blaue Flecken aufwiesen, die auf Misshandlungen schließen ließen, oder oder oder. Die Liste der möglichen Ursachen, warum man die Kripo zu Rate rief, war lang. Doch in den seltensten Fällen steckte auch ein Verbrechen hinter dem Ableben dieser Menschen.

      „Ich bräuchte dann noch den Namen und das Geburtsdatum der Toten, damit ich die Unterlagen ausstellen kann“, riss der Doktor ihn aus seinen Gedanken.

      „Ähm ja … da muss ich passen. Wir haben noch keinen Ausweis der Verstorbenen. Aber ich reicheIhnen die nötigen Angaben im Laufe des Tages nach“, versprach er und winkte dann den Männern der Spurensicherung, die gerade aus dem Heli stiegen. Ermittlungen auf einer der Insel waren immer wieder eine logistische Herausforderung. Auf dem Festland setzte man sich eben mal schnell in mehrere Wagen und fuhr mit dem Team zum Tatort. Das ging hier nicht. Hier musste man warten, bis die Fähre fuhr und die brauchte dann auch noch eine Stunde. Und dann war man erst einmal nur am Inselbahnhof. So eine Insel war ohne fahrbaren Untersatz verdammt groß. Ein Elend. Wenn es also schnell gehen sollte, musste ein Heli her, in dem aber, außer dem Piloten, immer nur drei Personen Platz hatten. Egal wie man es anstellte – es dauerte seine Zeit und war alles in allem nicht gerade einfach. Deshalb musste man den Einsatz von Personal auf das Nötigste, die kleine Besetzung, beschränken und auf die Kollegen vor Ort vertrauen. Insgeheim mochte Willi Einsätze wie diesen. In fünf Jahren würde er in Rente gehen, seine Zelte in Wittmund ein für alle Mal abbrechen und seinen Lebensabend auf einer der Inseln verbringen. Genauer gesagt auf dieser Insel. Zumindest war dies der Plan. Es blieb nur zu hoffen, dass die Preise für Immobilien nicht noch weiter ins Uferlose kletterten. Ansonsten würden seine Lebensversicherung und das Geld, was er für sein Haus am Stadtrand von Wittmund bekam, nicht ausreichen.

      Er holte sein Telefon aus der Jacke und sah auf die Uhr. Gleich schon zehn und er hatte noch kein Frühstück gehabt. Es wurde Zeit für das obligatorische Fischbrötchen auf der Insel und er wusste auch schon, wer ihm beim Verzehr der Köstlichkeit Gesellschaft leisten würde.

      „Ihr kommt hier ohne mich klar?“, fragte er die Kollegen von der Spusi.

      Die Männer nickten beinahe synchron und widmeten sich dann wieder ihrer Arbeit. Willi sah in Richtung Dorf. Ein grüner Traktor hoppelte von dort über den Strand direkt auf ihn zu. Hintendran hing heute kein Wagen für Heu oder sonstiges landwirtschaftliches Gerät, sondern ein altertümlicher Bestattungsanhänger. Kurz überlegte er doch noch zu warten, bis der Leichnam geborgen war, um dann mit dem Traktor mitzufahren, verwarf aber den Gedanken wieder. Er hatte doch Zeit. Hier auf der Insel gingen die Uhren eh langsamer und welcher deutsche Kriminalbeamte hatte schon das Glück, für einen Strandspaziergang auch noch bezahlt zu werden. Außerdem würde ihm ein bisschen Bewegung sicherlich nicht schaden.

      Kapitel 4

      Montag, 21. September 2020, 10:15 Uhr

      Hotel Klabautermann, Insel Langeoog

      „Eieiei … Wie sieht es denn hier aus?“, stellte Onno fest, als der Herr vom Hotel ihm das Zimmer mit der Nummer 17 aufsperrte.

      „Hmm … entweder war die Frau Kolchowsky sehr unordentlich oder irgendwer hat hier irgendetwas gesucht?“, überlegte Lotta und drängte sich an Onno vorbei in das Zimmer, in dem es tatsächlich aussah als hätte dort ein Orkan gewütet, der alle Schränke aufgerissen und deren Inhalt über den Boden verteilt hätte.

      „Also, ich würde eher auf Letzteres tippen“, meinte Onno und wandte sich dann an den Rezeptionisten.

      „Wir brauchen Sie dann gerade nicht mehr, Herr Faust“, entließ er den Mann, der freundlich, aber auch besorgt nickte und sich dann eiligst entfernte.

      „Eieiei … vielleicht sollten wir zuerst einmal die Kollegen von der Spurensicherung anrufen. Das sieht ja aus, als hätte hier ein Kampf stattgefunden“, überlegte Onno laut und sah dann zu, wie Lotta sich Gummihandschuhe überstreifte. Es war erstaunlich, an was die Kollegin immer alles dachte. Er hatte so etwas natürlich wieder einmal nicht einstecken. Noch nicht einmal Lederhandschuhe, wie er sie früher in seiner alten Dienststelle in Wittmund auf Streife immer am Mann trug, besaß er mehr, da er sie irgendwo verlegt, verloren oder vergessen hatte. So etwas brauchte ein Inselpolizist aber auch nicht. Normalerweise.

      „Mach mal ein paar Fotos mit deinem Mobiltelefon, bevor ich etwas verändere“, forderte Lotta ihn derweil auf.

      Onno seufzte. Er hatte kein gutes Gefühl dabei,