Sand im Dekolleté. Micha Krämer

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Название Sand im Dekolleté
Автор произведения Micha Krämer
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783827183958



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Wetter jetzt noch nutzen. Wer wusste schon, wie lange man morgens noch in der Nordsee baden konnte? Lange dauerte es nicht mehr, bis das Wasser zu kalt dazu werden würde. Von den Temperaturen des Sommers war die See bereits weit entfernt. Was Martin aber nicht störte. Was einen nicht umbrachte, machte einen nur härter, hatte sein alter Vater immer gesagt. Okay, früher war Martin auch eher so ein Warmduscher gewesen. Das gab er auch ganz offen zu. Allerdings hatte er gelernt, dass das Bad im kalten Meer ihm auch eine Menge Vorteile brachte. Seit er regelmäßig bei fast jedem Wetter morgens schwimmen ging war er nämlich nicht ein einziges Mal mehr krank gewesen. Seit gut und gerne sechs Jahren hatte er noch nicht einmal mehr einen Husten gehabt. Wie gesagt … was einen nicht umbrachte …

      Etwa zehn Meter vor der Brandungslinie breitete er sein Handtuch auf dem feinen hellen Sand aus und begann dann sich zu entkleiden. Eine Badehose brauchte er morgens nicht. Zum einen, weil die meisten sich auf der Insel befindlichen Menschen ja noch schliefen und zum anderen, weil es ihm auch ansonsten ziemlich egal war, was andere darüber dachten. Wen es störte, dass er vor Tagesanbruch nackig baden ging, konnte ja auch wegschauen.

      Er sog tief die salzige Luft ein und ließ seinen Blick über den Strand schweifen. Rechts von sich hörte er Lumpi bellen. Was die wohl wieder hatte, dass sie sich so aufregte? Martin hob die Hand über die Augen, da ihn die tief stehende Morgensonne blendete und er den Vierbeiner deshalb kaum sehen konnte. Lumpi befand sich etwa fünfzig Meter östlich von ihm, nahe der Brandungslinie, und machte ein Heidenspektakel. Irgendetwas Großes, das dort lag, schien ihr nicht zu passen. War da etwa ein kleiner Wal oder eine doch eher sehr große Robbe gestrandet? So jedenfalls würde Martin nicht in Ruhe baden gehen können. Lumpi hörte niemals einfach auf zu kläffen, nur weil er das so befahl. Die Hündin konnte sehr penetrant nerven, wenn sie nicht ihren Willen bekam. Da war sie ein wenig wie Martins bessere Hälfte Annemarie.

      „Lumpi … hierher … bei Fuß“, rief er, obwohl er genau wusste, dass dies nichts bringen würde. Die Hündin wollte, dass er zu ihr kam und sich ansah, was da lag. Ein Verhalten, das man ja so auch aus den Lassie-Filmen und von Flipper kannte. Die hatten auch immer genervt, wenn sie ihrem Herrchen was sagen wollten. Es würde Martin nichts anderes übrig bleiben, als zu gehorchen. Eine verdrehte Welt war das, wo Menschen tun mussten, was ihre Hunde und Delfine wollten. Martin seufzte und setzte sich in Bewegung.

      Beim Näherkommen erkannte er, dass der mutmaßliche Wal bekleidet war. Da Tiere bekanntlich keine blaugrünen Dirndl trugen, war ihm sofort klar, was oder wer da am Strand lag. Es war die Geburtstagsfrau von letzter Nacht. Die, die sie zur Geisterstunde noch hatten hochleben lassen.

      Die Dirndlfrau schien zu schlafen. Sie lag auf dem Bauch, das Gesicht von Martin abgewandt.

      „Lumpi … Schluss jetzt … hier bei Fuß!“, schimpfte er nochmals und wunderte sich, dass der brave Vierbeiner nun tatsächlich gehorchte und zu ihm kam.

      „Ein feines Hundilein bist du … ja, ganz fein“, lobte er das Tier und tätschelte es. Die rundliche Frau mit dem Dirndl rührte sich nicht. Nun gut, er selbst hatte ja gesehen, was diese Dame in der letzten Nacht alles in sich hineingeschüttet hatte. So schnell, wie die trank, konnte der Köbes, wie man in seiner alten Heimat Köln den Kellner nannte, gar nicht nachschenken.

      Martin würde sie am besten schlafen lassen. Er drehte sich um und wollte bereits wieder zu seinem Handtuch gehen, als ihm dann doch Bedenken kamen. Vermutlich ging es der Frau nach dem ganzen Alkohol nicht so gut. Klar sollte man Betrunkene erst einmal ausschlafen lassen. Doch in einer kalten Septembernacht an einem Nordseestrand konnte man sich ruckzuck etwas wegholen. Wer wusste schon, wie lange die bereits hier in der Kälte lag? Nein, er würde sie so nicht liegen lassen können. Er machte also noch einmal kehrt, ging zu ihr zurück und stupste sie sachte mit seinem Fuß an. Keine Regung.

      Da musste er wohl rabiater werden.

      „Hallo, Sie … Frau Erna … aufwachen“, glaubte er sich an ihren Vornamen zu erinnern und rüttelte sie an der Schulter. Nachnamen hatte Martin sich noch nie gut merken können. Vermutlich weil er fast jeden direkt beim Vornamen und mit „du“ ansprach.

      „Hallo, Frau Erna. Du kannst hier doch nit einfach so liegen tun bleiben. Dat jeht ruckzuck und man tut sich bei der Kälte den Tod holen“, blieb er hartnäckig.

      Noch immer regte sich nichts. Überhaupt fühlte die sich irgendwie komisch an. Ein übler Gedanke kam ihm. Er kniete sich hin, packte sie an Oberarm und Schulter und drehte sie mit aller Kraft auf den Rücken. Erna war steif und kalt wie ein Hähnchen aus der Gefrierkühltruhe im Supermarkt. Ihre Augen starrten ihn leblos an.

      „Ja, verdamischt noch mal“, fluchte er und fühlte noch einmal vollkommen unnötig an ihrem Hals, an dem deutliche rote Striemen zu sehen waren. Wenn Martin hier eins und eins richtig zusammenzählte, dann gab es nur eine plausible Erklärung: Erna war erwürgt worden. Und das auch noch an ihrem Geburtstag. Was ja besonders schlimm war. Auf so einen Geburtstag, da freute man sich doch immer. Also er zumindest tat dies, weil ja dann alle Freunde zu Besuch kamen und es immer selbst gebackene lecker Torte von Frau Annemarie gab. Erna würde keine Torte mehr brauchen. Ein weiterer Gedanke kam ihm. Konnte es sein, dass er den Grund für den Mord an ihr bereits kannte? Er holte tief Luft, als wolle er im Meer untertauchen, nahm all seinen Mut zusammen und griff der Toten ins Dekolleté. Doch außer trockenem Sand, klammem Stoff und kalter Haut war da nichts zu ertasten. Das Rubbellos mit dem Gewinn war nicht mehr da, wo sie es gestern hingesteckt hatte.

      „He Sie, was machen Sie denn da?“, kreischte plötzlich jemand dicht hinter ihm. Erschrocken zog Martin seine Hand zurück. Lumpi begann wieder zu kläffen.

      Eine etwas fülligere Frau mittleren Alters in rosa­farbener Joggingkleidung stand keine drei Meter seitlich von ihm und gaffte entsetzt abwechselnd zwischen Lumpi, der toten Erna und Martin hin und her.

      „Öhh ja … dat Frau Erna … ja … na … die ist wohl futsch“, stammelte Martin, erhob sich und machte einen Schritt auf die rosa Frau zu.

      „Sie … Sie … haben Sie … Sie perverses Schwein Sie“, kreischte die jetzt auch noch.

      Martin stutzte. Die Schrulle schien hier irgendetwas vollkommen falsch zu interpretieren.

      „Ich? Nä … ich war dat nit. Die war schon so“, verteidigte er sich und merkte nun erst an dem angewiderten Blick des rosaroten Elefanten, der förmlich an ihm klebte, dass er selbst ja splitterfasernackt war.

      „Sie Wüstling … Sie Perverser. Bleiben Sie, wo Sie sind“, schrie sie ihn weiter an.

      „Aber jute Frau. Et is doch alles janz anders. Beruhigen Sie sich doch mal“, versuchte er die Lage zu deeskalieren und machte einen weiteren Schritt auf sie zu. In ihrem Gesicht stand pure Panik. Lumpi führte sich immer noch auf wie ein Berserker. Plötzlich zog die Rosafarbene ein Ding aus der Tasche ihrer Joggingjacke und machte einen Satz nach vorne. Als Martin begriff, was gerade abging, war es bereits zu spät. Der Stromschlag aus dem Elektroschocker auf seiner Brust war so heftig, dass ihm der Atem und vermutlich auch das Herz kurz stockten. Wie ein nasser Sack fiel er zu Boden. Lichtblitze zuckten vor seinen Augen, dann wurde es dunkel um ihn herum.

      Kapitel 2

      Montag, 21. September 2020, 6:52 Uhr

      Insel Langeoog

      „Ist das nicht ein herrlicher Morgen?“, fragte Onno Federsen seine bessere Hälfte Tine und blinzelte in die tief stehende Sonne.

      „Ja, mal sehen, wie lange noch. Der Herbst steht ja quasi schon vor der Türe. Ich denke mal nicht, dass wir in diesem Jahr noch oft draußen frühstücken können“, säuselte Tine, blickte kurz zum Himmel und nippte dann an ihrem Kaffee.

      Kaffee war noch nie so wirklich Onnos Ding gewesen. Doch jedem, wie es ihm gefiel. Wenn sie beide morgens, wie heute, auf der Terrasse hinter dem Haus beim Frühstück saßen, genoss er, während Tine ihrem Kaffee frönte, seinen Ostfriesentee. Natürlich, wie es sich gehörte, mit Sahne und Kluntjes, die gar nicht dick genug sein konnten. Dazu ein Croissant mit dick Butter und Schokocreme drauf. Das war zwar nicht typisch ostfriesisch aber dennoch sehr lecker und ein absolutes Muss für ihn.

      „Liegt