Hannover sehen und sterben. Thorsten Sueße

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Название Hannover sehen und sterben
Автор произведения Thorsten Sueße
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783827183644



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sofort mit Philipp Rathing verband. Eine raffinierte Anspielung auf Public Relations, die gleichfalls Assoziationen weckte zum weltweit bekannten Kürzel J. R. aus der amerikanischen Erfolgsserie „Dallas“.

      Für die Fahrt im Dunkeln von Celle nach Hannover konnte Philipp bequem die Autobahn nutzen. In Anderten, einem Stadtteil im Osten der niedersächsischen Landeshauptstadt, besaß er ein Einfamilienhaus mit Garten, welches er nach dem Auszug von Melanie und ihren Kindern meistens allein bewohnte.

      Als er in die Straße einbog, die zu seinem Haus führte, hatte er plötzlich das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Er verspürte einen unangenehmen Druck im Magen, der sich schnell im gesamten Bauch breitmachte.

      Die blöden Gedanken vorhin an den Psycho-Biker. Jetzt mach ich mich schon selbst verrückt. Hat er’s doch geschafft, dass ich mich wieder unwohl fühle.

      Philipp erreichte die Einfahrt zu seinem Haus, bremste ab und fuhr langsam auf sein Grundstück Richtung Garage. Im Licht der Scheinwerfer war nichts Ungewöhnliches zu entdecken.

      Was hab ich erwartet? Grothe wird schon nicht hier im Dunkeln vor dem leeren Haus auf mich warten.

      Mit der Fernbedienung öffnete er die Garage und fuhr den Wagen hinein. Die Bewegungsmelder erhellten den vorderen Teil des Gartens. Als er das Garagentor wieder verschloss und auf die Haustür zusteuerte, wurde er zunehmend ruhiger. Kein ungebetener Gast, der ihm ans Leder wollte.

      Er steckte den Schlüssel ins Schloss der Haustür, als er hinter sich ein Geräusch hörte.

      Scheiße! Ich hatte doch recht!

      Er drehte sich um und sah der Gestalt direkt ins Gesicht. Als Letztes bemerkte er irritiert die Pistole, die sein Gegenüber auf ihn gerichtet hatte. Dann beendeten zwei Schüsse das Leben des hannoverschen Bestsellerautors.

      Kapitel 2

      Irgendwann vorher …

      Er lebte sein ganzes Leben in zwei Welten, wobei er meistens in der einen nicht wusste, was er in der anderen tat. Das ging schon fast zwanzig Jahre so.

      An die ersten sechs Lebensjahre hatte er allerdings keinerlei Erinnerung. Sie waren komplett ausgelöscht. Diese Zeit kannte er lediglich von alten Fotos oder aus Erzählungen.

      Seit seiner frühen Kindheit war er ein Schlafwandler. Mitten im Schlaf verließ er mit offenen Augen das Bett und ging im Haus seiner Eltern umher. Er bediente sich am Kühlschrank, fing an zu essen. Mehrfach war es sogar vorgekommen, dass er beim Schlafwandeln das Haus verlassen hatte. Wenn er später wieder ins Bett zurückkehrte und am nächsten Morgen aufwachte, konnte er sich an nichts mehr erinnern. Einmal hatte sich ihm beim Schlafwandeln sein älterer Bruder in den Weg gestellt. Er war gewalttätig geworden und hatte den Bruder geschlagen. Später wusste er nicht, was passiert war. Ängste und Hemmungen verschwanden während des Schlafwandelns.

      Er wurde mehrfach von neurologischen und psychiatrischen Fachärzten untersucht, war in einem Schlaflabor. Die Diagnose lautete Somnambulismus, was lediglich die medizinische Bezeichnung für Schlafwandeln war. Eine Schlafstörung, bei der der Erbfaktor eine Rolle spielte. In seiner Familie hatten zumindest seine Mutter und ihr Bruder als Kind damit zu tun gehabt.

      Nach der ärztlichen Prognose hätte das Schlafwandeln bei ihm mit der Pubertät aufhören müssen. Bei ihm war das nicht der Fall. Das typische Nachtwandeln war tatsächlich seltener geworden. Aber stattdessen weitete sich sein ungewöhnliches Verhalten zunehmend auf den ganzen Tag aus. Er vollzog tagsüber komplexe Handlungen, für die ihm jegliche Erinnerung fehlte. Er joggte durch den Park, kaufte im Internet ein oder stritt sich mit einer Person. Wenn andere ihm davon erzählten, spukte manchmal eine vage Erinnerung durch seinen Kopf, von der er zuvor gedacht hatte, es wäre nur ein Traum gewesen.

      Die Ärzte sprachen davon, dass er neben dem Schlafwandeln in dissoziative Zustände geraten würde. Einzelne Wahrnehmungs- und Gedächtnisinhalte würden dabei voneinander abgetrennt. Offenbar ein Schutzmechanismus der Psyche, um bestimmte belastende Vorgänge und Erinnerungen fernhalten zu können. Er hatte auf Anraten der Ärzte zwei Jahre eine ambulante Psychotherapie gemacht. Nach Ende der Therapie fing er an, seine erste Mystery-Geschichte zu schreiben. Sie handelte von Gaylord, dem Schlafwandler, der zusätzlich unter dissoziativen Zuständen litt und der sein Störungsbild dafür nutzte, um in einer gnadenlosen Welt seine Ideale durchzusetzen. Die Inhalte der Zeitungsausschnitte, die er vor Jahren gesammelt hatte, waren in seine erste Geschichte eingeflossen. Vor einigen Jahren hatte in der Region Hannover ein Serienmörder neben jedes seiner Opfer Gegenstände deponiert, welche vermutlich eine symbolische Bedeutung hatten – ein Grablicht und eine Spielkarte. Aus ermittlungstaktischen Gründen hatte die Polizei diese Information erst nach Aufklärung der Mordserie an die Presse gegeben.

      Mit achtzehn veröffentlichte er bei Amazon seine erste Mystery-Geschichte als E-Book. Ein Jahr später folgte die zweite.

      Als Autor gab er seinen richtigen Namen an: Paul Stern.

      Kapitel 3

      Drei Monate vor dem Mord an P. R.

      Der Wecker meldete sich pünktlich um sechs. Mit der flachen Hand versuchte ich dem nervigen Gepiepe ein Ende zu machen, erwischte aber leider nicht den Aus-Knopf, sondern die rechte Seite des Weckers, der zwischen mein Bett und meinen Nachttisch fiel und munter weiterpiepte, natürlich mit zunehmender Frequenz und Lautstärke. Ich machte das Licht an, brachte mühsam den Störenfried wieder zum Vorschein und beendete den Krach. Auf jeden Fall war ich jetzt putzmunter, aber schon zu Beginn des Tages schlecht drauf. Der Blick auf die zweite leere Doppelbetthälfte verstärkte mein Stimmungstief. Dort hatte bis vor zwei Wochen Anna gelegen. Jetzt war sie weg, ausgezogen bis auf Weiteres. Dabei hatte Anfang dieses Jahres alles noch so anders ausgesehen.

      Vor zwei Jahren wollten wir den Zustand mit den zwei eigenen Wohnungen beenden und uns gemeinsam ein Haus anschaffen. Wir hatten bereits ein Objekt gefunden, aber die Kaufverhandlungen zogen sich hin und scheiterten schließlich. Stattdessen war Anna als Übergangslösung in meine Drei-Zimmer-Wohnung im hannoverschen Zooviertel eingezogen. Ihre Wohnung in Linden hatte sie aufgegeben.

      Momentan wohnte Anna bei einer befreundeten Kollegin, die wie sie Lehrerin am Lindener Hermann-­Hesse-Gymnasium war. Manchmal hatte ich ein Fünkchen Hoffnung, dass Anna und ich wieder zusammenkommen würden. Aber nur manchmal – und heute Morgen gerade nicht.

      Es war Freitag, der 16. Dezember. In gut einer Woche war Heiligabend, und ich würde die Festtage mit großer Wahrscheinlichkeit ohne Anna verbringen.

      Ein kleiner Lichtschimmer war mein rechter Fuß. Vor einigen Wochen war ich damit umgeknickt und hatte mir im oberen Sprunggelenk einen Außenbandriss zugezogen. Bis gestern musste ich deshalb eine Stützschiene tragen. Die Genesung meines Fußes vermochte meine Laune nur unwesentlich zu verbessern.

      Ich schleppte mich ins Badezimmer. Der Spiegel dort zeigte einen achtundvierzigjährigen Mann mit einem deprimierten Gesichtsausdruck.

      „Mark Seifert, du gefällst mir gar nicht“, sagte ich zu mir selbst.

      Schade, dass ich mich als Psychiater nicht selbst behandeln kann. Momentan hätte ich es bitter nötig.

      Ich war Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und leitete den Sozialpsychiatrischen Dienst, eine Einrichtung des öffentlichen Gesundheitsdienstes des Kommunalverbands Region Hannover. Der Sozialpsychiatrische Dienst verfügte über eine Zentrale und zwölf Beratungsstellen, ausgestattet mit insgesamt hundert Fachkräften, die sich um die ambulante Versorgung derjenigen psychisch Kranken kümmerten, die nicht oder nicht ausreichend vom kassenärztlichen System erreicht wurden.

      Nach einem mageren Schnellfrühstück machte ich mich auf den Weg zur Arbeit.

      Jeden Freitag hatte ich mich selbst zur psychiatrischen Notfallbereitschaft für das Gebiet der Landeshauptstadt eingeteilt, um den Bezug zur Praxis zu behalten.

      Kurz vor acht Uhr betrat ich die Zentrale des Sozialpsychiatrischen Dienstes in der vierten Etage des Timon Carrés, einem sechsstöckigen Gebäudekomplex, in dem sich ansonsten zahlreiche Arztpraxen befanden, mitten im hannoverschen Stadtteil Döhren.

      In