Nachbarn. Nele Sickel

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Название Nachbarn
Автор произведения Nele Sickel
Жанр Научная фантастика
Серия
Издательство Научная фантастика
Год выпуска 0
isbn 9783947550562



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und bekam ihre Schwester am Handgelenk zu fassen. Mit einem sanften Ruck zog sie sie zu sich zurück und zwang sie damit, stehen zu bleiben. »Hey, wo willst du denn hin?«

      Der Rhythmus kam ins Stocken. Die Tänzer hielten in ihren Bewegungen inne. Einer der Männer hörte auf zu singen, nur der andere summte noch leise weiter. Keiner sprach. Cay drehte sich langsam um und sah mit großen, verständnislosen Augen erst auf Brens Hand und dann in ihr Gesicht.

      »Was ist?«, hauchte sie.

      Bren ließ ihr Handgelenk los und zog sie in eine schwungvolle Umarmung. »Das fragst du noch? Du hast dich seit Tagen nicht gemeldet. Ich hab dich die ganze Nacht gesucht.« Sie presste ihr Gesicht an Cays Schulter und kämpfte die Tränen zurück.

      »Hm? Gesucht? Wieso?«

      Als Bren spürte, wie Cay sich in ihrer Umarmung versteifte, gefror auch sie in ihrer Bewegung. »Weil du nicht zu Hause warst.«

      »Zu Hause?« Cay kämpfte gegen Brens Griff an und machte einen Schritt zurück.

      Vollkommen überrumpelt ließ Bren sie gehen. Mit dem gewonnenen Abstand konnte sie Cays fragenden Blick sehen. Es war der gleiche Blick, den Cay damals dem Jungen zugeworfen hatte, der sie auf den Mund geküsst hatte, kaum dass er in die Pflegefamilie gekommen war. Derselbe Blick, den sie später im Fevernight ihren allzu aufdringlichen Bewunderern zugeworfen hatte. Eine Mischung aus Misstrauen und gutmütiger Nachsicht, die Bren das Blut aus dem Gesicht trieb und sich ihr schwer auf Brust und Schultern legte.

      »Cay. Was ist mit dir?«

      Der blonde Mann trat dicht hinter Cay und schlang seine Arme um sie. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr und ihr Gesichtsausdruck entspannte sich. Ein Anflug des Lächelns von vorhin kehrte auf ihre Lippen zurück.

      »Was habt ihr mit ihr gemacht?«, brüllte Bren ihm entgegen, aber er blieb stumm. »Cay, bitte! Das ist nicht lustig. Komm mit mir nach Hause, ja?«

      »Ich kenne dich nicht«, antwortete Cay und diesmal blieb ihr Lächeln unverändert. »Und ich werde nicht mit dir mitkommen, tut mir leid.«

      Damit wandte sie sich um. Ihr Begleiter legte einen Arm um sie und gemeinsam setzten sie sich wieder in Bewegung. Die Gruppe folgte ihrem Beispiel. Nach ein paar Schritten stimmten sie sogar wieder Lied und Tanz an.

      Bren blieb wie vor die Wand gelaufen zurück. Ihr Blick bohrte sich in Cays Rücken, der ganz langsam kleiner wurde. Ich kenne dich nicht, hallte es immer noch durch ihren Kopf. Ich kenne dich nicht. Sie wollte ihr nachlaufen, musste ihr nachlaufen. Energisch warf sie sich nach vorn, doch etwas presste sich gegen ihre Brust. Sie hob abwechselnd die Füße und kam doch nicht vom Fleck. Es war, als hielten unsichtbare Hände sie an den Schultern zurück.

      Ich kenne dich nicht.

      Die Gruppe entfernte sich weiter. Andere Menschen eroberten den frei gewordenen Straßenflecken zurück und drängten sich dabei in Brens Sichtfeld. Sie spannte jeden Muskel an, rammte einen Fuß in den Boden, schob den anderen voran, tat alles, um vorwärts zu kommen. Zumindest glaubte sie das. Die Realität strafte sie Lügen. Schockstarre nannte man das wohl. Die Hände, die unsichtbaren Wände oder was auch immer hielten sie fest. Bren stand still. Sie starrte und starrte weiter, bis die Gruppe an der nächsten Ecke innehielt, in die Querstraße einbog und darin verschwand.

      Das endlich brach den Zauber. Die Panik nahm überhand, befreite Bren aus den unsichtbaren Fesseln und ließ sie laufen. In großen Sätzen sprintete Bren die Straße hinunter. Dabei stieß und schob sie jeden von sich, der es wagte, ihr in den Weg zu treten. Bald schon gelangte sie an die Straßenmündung, in die hinein Cay und ihre Begleiter verschwunden waren. Bren sprang um die Ecke und sah sich um. Die Straße war eng, fast so eng wie die Gasse der lungernden Jugendlichen. Nur wenige Menschen drängten sich zwischen den Hauseingangstüren und geschlossenen Geschäften. Sie liefen in kleinen Gruppen von nicht mehr als drei oder vier Leuten. Cay war nirgendwo zu sehen.

      Brens Herz machte einen ungesunden Satz. Sie eilte weiter, sah dabei nach links und rechts durch die Glasfronten in die Gebäude. Nirgendwo wurde gesungen oder getanzt. Nirgendwo leuchtete blondes Haar auf. Nirgendwo eine Spur von Cay.

      Nein! Nein, nein, nein, das durfte nicht sein! Es waren doch nur wenige Sekunden gewesen. Nur ein kurzer Moment der Schwäche. Sie konnte doch unmöglich weg sein!

      Selbst wenn sie in eines der Häuser gegangen wäre, müsste Bren sie doch zumindest durch die Fenster irgendwo entdecken. Und wenn schon nicht Cay, dann wenigstens eine der Gestalten, die mit ihr gegangen waren. Es war schlicht unmöglich, dass sie alle so schnell von der Bildfläche abgetaucht sein sollten.

      Bren gab nicht auf. Sie rannte, bog um Ecken, rannte weiter. Sie lief die Straße auf und ab, probierte ihr Glück in angrenzenden Straßen, schaute in jedes Fenster, jeden Winkel, suchte jede Wand nach Vorsprüngen, Fenstern, Luken und Verstecken ab. Wieder und wieder rief sie Cays Namen oder fragte Passanten, ob sie sie nicht gesehen hatten. Doch da war nichts. Gar nichts. Niemand konnte helfen, niemand hatte etwas bemerkt. Cay blieb verschwunden.

      Mit geballter Faust hämmerte Bren an die Tür zu Pats Wohnung. Sie klopfte so laut, dass sie die Schritte aus dem Inneren nicht hören konnte und die Hand überrascht in der Luft schweben ließ, als die Tür plötzlich vor ihr aufglitt.

      Diesmal war Sioh vollständig bekleidet. Das und die Schatten unter seinen Augen ließen erahnen, dass auch er keine geruhsame Nacht hinter sich hatte. Trotzdem war sein Blick auf den Gang hinaus nicht abweisend oder gereizt, sondern neutral freundlich. Das änderte sich allerdings schlagartig, als er Bren erkannte. Grimmige Falten machten sich auf seiner Stirn breit.

      Bren ließ sich davon nicht beirren. »Okay, Feen«, sagte sie, während sie sich ungefragt an Sioh vorbei in die Wohnung drängte und dort auf die Tischplatte sprang. »Was muss ich wissen?«

      Sioh schaute sie einen Moment abschätzend an, dann schloss er die Tür und setzte sich ihr gegenüber auf den Stuhl. »Was ist passiert?«, fragte er.

      Bren schwieg.

      Ihr Schweigen schien ihn in seinen Erwartungen allerdings nur zu bestärken. Die betonte Ruhe wich schnell aus seiner Haltung und machte leuchtenden Augen und sprudelnden Worten Platz. »Du hast sie gesehen, stimmt’s? Was ist mit meinem Vater? War er auch da? Wie geht es ihm?«

      Bren schüttelte den Kopf. »Nein, nur meine Schwester.« Sie schluckte. »Sie hat mich nicht erkannt.«

      »Was, wirklich?« Siohs Augen weiteten sich in etwas, das Bren für eine Mischung aus Überraschung und Triumph hielt. »War sie im Alien Neighbours

      Für seine Selbstzufriedenheit funkelte sie ihn zornig an, doch sie nickte.

      »Warst du drin?«

      »Nein, sie lassen einen nicht rein. Keine Erklärung, nichts.«

      Sioh atmete schwer aus. Es war fast ein Seufzen, aber nur fast. »So war es bei mir auch.«

      »Scheißkerle!« Sie wollte mehr fluchen, aber vor Wut und Frustration fehlten ihr die Worte.

      So schwiegen sie eine Weile. Bren sah abwechselnd auf ihre Hände oder im Raum umher. Sioh schaute sie nicht an. Sie fühlte sich furchtbar und ihr war nicht danach, überhaupt irgendjemanden anzusehen.

      Er war es schließlich, der die Stille brach. »Also, du willst meiner Theorie jetzt eine Chance geben? Eine echte?«

      Sie sah zur Seite und inspizierte den Kissenbezug auf dem Bett, anstatt Sioh anzusehen, aber sie nickte.

      »Wieso?«

      »Weil es nicht sein kann. Sie hat mich nicht erkannt. Wirklich nicht erkannt.«

      »Sie könnte es dir vorgespielt haben. Einen Scherz gemacht haben oder vielleicht den Versuch, irgendwen zu beeindrucken.«

      »Das würde sie nicht.«

      »Was, wenn sie jemand gezwungen hat?«

      »Dann