Küstensturm. Heike Meckelmann

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Название Küstensturm
Автор произведения Heike Meckelmann
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839267608



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raste mit über 200 Stundenkilometern über die Autobahn Richtung Fehmarn. Er hatte sich, als er Stinas Nachbarin aufgesucht hatte, auf den Weg machen wollen, um sie zu suchen. Allerdings hatte sein anschließender Alkohol- und Kokainkonsum ihn völlig aus der Bahn geworfen. Er touchierte mit seinem Porsche einen Baum und war nach Hause gefahren, um wenigstens ein paar Stunden Schlaf zu finden. Heute, drei Aspirin und zwei Liter Wasser später, klärte sich das Chaos in seinem Kopf. Mit dem Restalkohol im Blut setzte er sich frisch geduscht hinter das Steuer des schwarzen Wagens. Der Startupper wunderte sich über die Beule auf der Beifahrerseite. Es war nicht das erste Mal, und morgen würde er den Wagen in die Werkstatt bringen. Aber jetzt musste er handeln. Er würde seinen Charme einsetzen. Das hatte bei Stina bisher immer gewirkt. Er lächelte, und im nächsten Moment erstarrte sein Blick. Und wenn sie nicht funktioniert, wird sie mich kennenlernen, dachte er verbissen. Seine Hände umkrampften das Lenkrad. Die Knöchel traten bleich hervor. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ihm sein wutverzerrtes Gesicht. Die Anspannung steigerte sich mit jedem Kilometer. Was bildete die sich ein? Er trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Mit der rechten Hand öffnete er das Handschuhfach und wühlte sich durch Pfefferminzbonbonpapier und missachtete Strafzettel. Dann ertastete er mit seinen Fingerspitzen ein kleines silbernes Päckchen. Er brauchte jetzt etwas, um herunterzukommen. Marcel öffnete das gefaltete Silberpapier mit zwei Fingern, während er sich weiter auf die Fahrbahn konzentrierte. Weißes Pulver kam zum Vorschein. Marcel warf einen Blick darauf, lächelte und hielt sich das Kokain unter die Nase. Dann sog er den Staub tief in seine Nasenlöcher. Die Geschwindigkeit des Wagens behielt er bei. Das Papier fiel achtlos zu Boden. Marcel zog noch einmal gierig Luft durch die Nasenflügel und schloss für den Bruchteil einer Sekunde die Augen. Dann drehte er die Musik im Radio auf und hielt weiterhin das Gaspedal bis zur Bodenplatte durchgedrückt. So raste er dahin. Die Lichter der Autos zogen rote Fäden und verschwammen vor seinen Augen.

      *

      Eine halbe Stunde später saßen die Freundinnen um den hölzernen Couchtisch. Tilda breitete einen Bogen Papier aus, den sie aus einer alten Einkaufstüte gebastelt hatte, und kritzelte mit einem Kugelschreiber sonderbare Zeichen, Buchstaben und Zahlen darauf. In der Mitte des Papierbogens stand ein umgestülptes Wasserglas. Sie sah sich um und entdeckte auf dem Fenstersims eine Kerze. Lächelnd stellte sie die auf den Tisch zu den anderen Sachen. »Die ist zwar halb heruntergebrannt, aber das dürfte reichen.« Sie entzündete sie. »Stinchen, mach bitte das Fenster auf.«

      »Und wozu soll das gut sein?«, wollte sie wissen und biss sich auf die Lippen. Ihre Hände schwitzten, und ihr Mut hatte sie längst verlassen. Sie hatte keine Lust mehr, Gläser zu verrücken, traute sich aber nicht, dies kundzutun. »Damit die Seelen der Verstorbenen, falls wir welche erreichen, auch wieder raus können.« Tilda holte einen Salzstreuer vom Regal und fing an, einen Salzkreis auf den Tisch streuen. »Was soll das denn werden?«, wollte Lotta wissen. »Um bösartige Geister fernzuhalten, die es nicht unbedingt gut mit uns meinen«, antwortete sie. »Und die weiße Kerze?«, fragte Stina mit glasigem Blick. »Damit wir nur Kontakt zu positiven Wesen bekommen«, flüsterte sie mit ernster Miene. »Und – nicht lachen. Das ist respektlos. Passt auf, dass das Glas nicht umkippt.« Die Mädchen sahen Tilda schweigend an. Lotta spürte erneut einen kalten Luftzug ihren Nacken streifen und war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob dies alles hier eine gute Idee war. Jetzt hat sie mich mit ihrem Gerede über Geister völlig eingelullt. »Is was?«, wollte Tilda wissen. Lotta antwortete nicht und schüttelte nur den Kopf.

      »So, es kann losgehen. Und bitte bleibt ganz cool, egal, was passiert.« Die Krankenschwester glaubte weder, dass man Geister rufen konnte, noch an den Hokuspokus, den Tilda gerade veranstaltete. Aber sie war schon zu betrunken, um energisch einzuschreiten. Die ganze Veranstaltung ging ihr gehörig gegen den Strich.

      Stina schien ebenso angetrunken zu sein wie sie selbst. Sie saß gleichmütig auf ihrem Stuhl und folgte dem Spektakel ohne einen Anflug von Angst. Stinas Blick wirkte abwesend. Tilda löschte das Licht der Deckenlampe und setzte sich zu ihren Freundinnen.

      »Gebt mir eure Hände«, flüsterte die dunkelhaarige Studentin und reichte den Mädchen die Hände. Die drei schlossen einen Kreis. »Bist du da? Ist irgendjemand hier?«, fragte Tilda mit ernster Miene, während Lotta sich das Lachen kaum verkneifen konnte. Die Einzige, die angetrunken versuchte, der Vorstellung zu folgen, war Stina. »Ist jemand hier? Geist, wenn du da bist, melde dich«, murmelte Tilda mit lallender Stimme. Ihre Augenlider verengten sich, und sie schüttelte vielsagend den Kopf.

      Es folgte Schweigen. Lotta zog einige Minuten später ihre Hand zurück, lächelte und wollte aufstehen. »Das darfst du nicht. Du sollst den Kreis nicht unterbrechen.« Tilda sah sie wütend an. »Ach, du mit deinem Hokuspokus«, sagte Lotta und stand auf. Sie zog ihre Jogginghose hoch und trollte sich Richtung Badezimmer. Sie drehte sich um und murmelte: »Lass uns endlich schlafen gehen. Der Unfug hier nervt, und ich habe keine Lust mehr. Morgen können wir weiter auf Geisterjagd gehen. Sieh dir Stinchen an. Sie ist grottenmüde, und wir sind alle drei ziemlich betrunken, wenn du mich fragst.« Sie öffnete die Tür zum Badezimmer, als mit lautem Knall das Fenster zuschlug.

      »Da siehst du, was du angerichtet hast«, rief Tilda und wurde bleich.

      Kapitel 6

      Marcel erwachte, und sein Schädel drohte zu platzen. Was war das für ein scheiß Zeug?, fragte er sich und hielt sich den Kopf. Ich muss hier augenblicklich weg. Sein Haar wirkte ungekämmt. Seine Gesichtsfarbe glich einem Berg Asche und ließ ihn erbärmlich aussehen. Er öffnete die Wagentür, stieg aus und schleppte sich zum Toilettenhäuschen, um wenigstens Wasser über sein Gesicht laufen zu lassen.

      Benommen startete er wenig später den Wagen. Er hatte einen üblen Geschmack im Mund und wusste nicht, wo genau er sich befand. Nur, dass er auf einem Rastplatz gelandet war. Marcel warf einen Blick auf die Digitalanzeige des Armaturenbrettes. Es war 16 Uhr. Mann, das Zeug hatte es in sich. Hat mir völlig den Kopf weggepustet. Er ließ den Porsche langsam auf die Fahrbahn rollen. Es dämmerte. Marcel wartete, bis ein Hinweisschild ihm zeigte, wo er gelandet war, und schaltete das Radio ein. Er öffnete das Seitenfenster und sog die eiskalte Nachtluft ein. Dann griff er zur Wasserflasche, die neben ihm in einer Halterung stand. Marcel leerte die Flasche in einem Zug. Ihm war übel, aber er wollte das zu Ende bringen. Nichts würde ihn davon abhalten, Stina zurückzuholen. Heiligenhafen: er war kurz vor der Insel. Ein verächtliches Grinsen zog über sein Gesicht. An Fehmarn hatte er Erinnerungen. Er war viele Sommer zum Surfen auf der Insel gewesen. Und wo gesurft wurde, war auch jede Menge hübscher Mädchen. Er leckte sich die Lippen.

      Jetzt musste er nur herausfinden, wo seine Freundin untergetaucht war.

      *

      Nächster Abend

      »Warum willst du denn nicht mit?«, fragte Tilda und sah Lotta verständnislos an. »Ich habe einfach keine Lust auf eine Liebesschmoranze und ich halte es auch nicht unbedingt für sinnvoll, Stina so eine Schnulze vorzuführen. Ich dachte, wir wollten gemeinsam hier etwas in der Hütte unternehmen.«

      »Was willst du hier denn machen? Mensch ärgere dich nicht spielen? Die Séance hast du ja bereits gekillt.« Tilda

      streifte ihren Mantel über. »Wir können uns doch unterhalten. Da gibt es so viele Themen, über die es sich zu philosophieren lohnt«, versuchte Lotta, das Ruder herumzureißen und Tilda zu locken. »Reden können wir noch die ganze Zeit, die wir hier verbringen. Ich habe jedenfalls Lust auf einen romantischen Film, und du, Stinchen?«

      »Ne, ist schon in Ordnung. Ich möchte auch lieber einen Film anschauen, als ständig ins Grübeln zu geraten oder nochmal diesen Geisterscheiß zu erleben. Mein Handy habt ihr mir schon abgenommen. Ich brauche Abwechslung, sonst drehe ich in dieser Einsamkeit durch. Und reden, da hat Tilda recht, können wir die ganze Zeit über.«

      Lotta Freimann gab sich geschlagen. Gegen die Argumente der Freundinnen hatte sie nichts mehr einzuwenden und überlegte, ob sie nicht doch mitfahren sollte. Wenn sie genau darüber nachdachte, fand sie es aber auch ganz prickelnd, für ein paar Stunden sich selbst überlassen zu sein. Tilda