Guy de Maupassant – Gesammelte Werke. Guy de Maupassant

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Название Guy de Maupassant – Gesammelte Werke
Автор произведения Guy de Maupassant
Жанр Языкознание
Серия Gesammelte Werke bei Null Papier
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783962817695



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lus­tig wa­ren, her­auf, »um den schla­fen­den Herrn Pou­lin zu se­hen.« Ma­da­me drück­te heu­te ein Auge zu; sie hat­te in der Ecke wie­der ein lan­ges Ge­spräch mit Herrn Vas­se, um die letz­ten Punk­te ei­ner An­ge­le­gen­heit zu ord­nen, die schon so gut wie ab­ge­macht war.

      End­lich um ein Uhr er­klär­ten die bei­den Ehe­män­ner, Herr Tour­ne­vau und Herr Pim­pes­se, dass sie fort müss­ten und zah­len woll­ten. Ma­da­me nahm nur Geld für den Cham­pa­gner an und rech­ne­te noch dazu die Fla­sche nur mit sechs Franks, statt der ge­wöhn­li­chen zehn Franks. Und als man all­sei­tig die­se Groß­mut be­wun­der­te, sag­te sie mit lus­ti­gem La­chen:

      »Es ist nicht alle Tage Kirch­weih!«

      *

      Die fünf Freun­de wa­ren mit ih­rem Di­ner zu Ende. Es wa­ren fünf in den bes­ten Jah­ren ste­hen­de Män­ner aus der gu­ten Ge­sell­schaft. Drei von ih­nen wa­ren ver­hei­ra­tet, wäh­rend die zwei üb­ri­gen dem Jung­ge­sel­len­stan­de an­ge­hör­ten. Je­den Mo­nat ka­men sie ein­mal in die­ser Wei­se zu­sam­men, um die Erin­ne­rung an ihre Ju­gend­zeit zu fei­ern und nach dem hei­te­ren Mah­le noch un­ter freund­schaft­li­chem Ge­plau­der bis in die Mor­gen­stun­de hin­ein zu ver­wei­len. Man sprach über dies und Je­nes, über al­les, was Pa­ris be­schäf­tigt und amü­siert; man trieb es hier nicht an­ders, wie in den meis­ten Pa­ri­ser Sa­lons, wo die Un­ter­hal­tung wei­ter Nichts ist, wie eine münd­li­che Wie­der­ga­be des­sen, was man in den Mor­gen­blät­tern ge­le­sen hat.

      Ei­ner die­ser Lus­tigs­ten un­ter ih­nen war Jo­seph de Bar­don, ein Jung­ge­sel­le, der das Pa­ri­ser Le­ben so voll­stän­dig und viel­sei­tig wie mög­lich aus­kos­te­te. Er war we­der ein Schwel­ger, noch ein Wüst­ling, aber er hat­te den Wunsch, al­les zu ken­nen, was das Le­ben bot; und die­se Art von Ge­nuss be­rei­te­te ihm eine wirk­li­che Freu­de. Sei­ne vier­zig Jah­re er­laub­ten ihm das üb­ri­gens auch. Ein Welt­mann im wei­tes­ten und bes­ten Sin­ne des Wor­tes, be­sass er viel Witz ohne be­son­de­re Geis­tes­tie­fe, vie­le Kennt­nis­se ohne gründ­li­che Bil­dung, eine schnel­le Auf­fas­sungs­ga­be ohne be­son­de­ren Hang zum Stu­di­um; er wuss­te das, was er bei al­len sei­nen Aben­teu­ern und Er­leb­nis­sen sah und be­ob­ach­te­te, so hübsch zu scherz­haf­ten und gleich­zei­tig tief­sin­ni­gen An­ek­do­ten zu ver­wer­ten und sei­ne Be­trach­tun­gen dar­an zu knüp­fen, dass ihm in der gan­zen Stadt der Ruf ei­nes geist­rei­chen Men­schen ge­zollt wur­de.

      Bei ih­ren ge­mein­schaft­li­chen Di­ners war er stets der Fe­st­red­ner. Er hat­te im­mer et­was in Be­reit­schaft und auf ir­gend eine neue Ge­schich­te konn­te man stets bei ihm zäh­len. Er gab sie zum Bes­ten, ohne sich lan­ge bit­ten zu las­sen.

      Eine Zi­gar­ret­te rau­chend, die Ell­bo­gen auf den Tisch ge­stützt, auf dem vor ihm ein halb­vol­les Glas »fine Cham­pa­gne« stand, und mit Be­ha­gen den Duft ein­zie­hend, wel­cher sich aus dem aro­ma­ti­schen Ta­bak im Ve­rein mit dem damp­fen­den Kaf­fee ent­wi­ckel­te, schi­en er ganz in sich ge­kehrt, wie es ein­zel­ne Per­so­nen an ge­wis­sen Or­ten und zu ge­wis­sen Zei­ten zu sein pfle­gen.

      Zwei Rauch­wol­ken von sich bla­send, sag­te er dann nach ei­ni­gen Mi­nu­ten die­ses brü­ten­den Schwei­gens:

      »Mir ist vor ei­ni­ger Zeit eine selt­sa­me Ge­schich­te pas­siert.«

      »Er­zäh­le!« tön­te es gleich­zei­tig aus al­ler Mun­de.

      »Sehr gern«, ent­geg­ne­te er. »Ihr wisst, dass ich sehr viel in Pa­ris her­umspa­zie­re, wie die Ra­ri­tä­ten­samm­ler, wel­che alle Schau­fens­ter und Lä­den durch­stö­bern. Mich in­ter­es­siert al­les, die Leu­te, das Ge­drän­ge, kurz al­les, was an mir vor­über­geht und al­les, was um mich her­um vor­geht.

      Schön! Ei­nes Ta­ges, Mit­te Sep­tem­ber, ver­liess ich, an­ge­lockt durch das herr­li­che Wet­ter, mei­ne Woh­nung, und schlen­der­te zu­nächst plan­los durch die Stras­sen. Man hat stets das un­be­stimm­te Be­dürf­nis, ir­gend ei­ner hüb­schen Dame sei­nen Be­such zu ma­chen. Man durch­stö­bert im Geis­te die gan­ze Rei­he sei­ner Be­kann­ten, ver­gleicht den Reiz der einen und das In­ter­es­se, wel­ches sie uns ein­flösst, mit den Ei­gen­schaf­ten der And­ren, und ent­schei­det sich schliess­lich je nach der Lau­ne, die man an die­sem Tage ge­ra­de hat. Aber wenn die Son­ne so herr­lich scheint und die Luft so mil­de ist, ver­geht ei­nem manch­mal die Lust zu je­dem Be­su­che.

      So ging es auch mir da­mals, und ich zün­de­te mir eine Zi­gar­re an, um stumpf­sin­nig dem äus­se­ren Bou­le­vard zu­zu­stre­ben. Dann kam mir, als ich dort spa­zie­ren ging, plötz­lich der Ge­dan­ke, den Kirch­hof auf dem Mont­mar­tre zu be­su­chen.

      Ich gehe gern auf einen Kirch­hof; es bringt mir das eine ge­wis­se me­lan­cho­li­sche Ruhe, der ich zu­wei­len be­darf. Und dann hat man ja auch so man­chen gu­ten Freund da, den man im Le­ben nicht wie­der­sieht. Wa­rum soll­te ich also nicht zu­wei­len da­hin ge­hen?

      Und ge­ra­de auf den Kirch­hof Mont­mar­tre zieht mich im­mer eine alte Her­zens­ge­schich­te. Dort ruht eine Freun­din von mir, die mich viel ge­quält und viel ge­liebt hat, ein rei­zen­des klei­nes Frau­chen, an die ich oft mit Ver­druss, oft aber auch mit Be­dau­ern … ja mit großem Be­dau­ern … zu­rück­den­ke … Da gehe ich dann, um an ih­rem Gra­be zu träu­men … Sie hat nun aus­ge­lit­ten!

      Ich lie­be auch die Kirch­hö­fe, weil sie mir im­mer wie große dicht­be­völ­ker­te Städ­te vor­kom­men. Den­ken Sie nur, wie viel Tote auf die­sem en­gen Rau­me bei ein­an­der lie­gen, den­ken Sie nur an all’ die Ge­ne­ra­tio­nen von Pa­ri­sern, die dort woh­nen, für im­mer woh­nen, rich­ti­ge Höh­len­be­woh­ner, die in ih­ren klei­nen Höh­len da ein­ge­schlos­sen sind, in ih­ren klei­nen durch einen Stein oder ein Kreuz be­zeich­ne­ten Lö­chern hau­sen, wäh­rend die Le­ben­den, die­se To­ren, so viel Raum ein­neh­men und so viel Geräusch von sich ma­chen.

      Aus­ser­dem gibt es noch auf den Kirch­hö­fen eben­so in­ter­essan­te Denk­mä­ler wie in den bes­ten Mu­seen. Das Grab­mal Ca­vai­gnac’s gibt mir schon Stoff zum Nach­den­ken, ohne es mit dem Meis­ter­wer­ke Jean Gou­jon’s ver­glei­chen zu wol­len: Dem Bil­de Lud­wigs de Bre­zé, der in der un­ter­ir­di­schen Ka­pel­le der Ka­the­dra­le von Rou­en be­gra­ben liegt. All’ un­se­re so­ge­nann­te mo­der­ne und rea­lis­ti­sche Kun­strich­tung, mei­ne Her­ren, stammt von da­her. Die­ser tote Lud­wig de Bre­zé ist wahr­heits­ge­treu­er, grau­sen­er­re­gen­der, in sei­ner Leb­lo­sig­keit ver­kör­per­ter, durch den Tod ver­zerr­ter, als alle die er­küns­tel­ten Leich­na­me, die man jetzt auf die Grab­denk­mä­ler mei­selt.

      Aber auf dem Kirch­hof Mont­mar­tre kann man auch noch das groß­ar­ti­ge Denk­mal Bau­din’s be­wun­dern, fer­ner das­je­ni­ge Gau­thier’s und das­je­ni­ge Mür­ger’s; auf letz­te­rem be­merk­te ich ei­nes Ta­ges einen arm­se­li­gen Kranz aus ver­bli­che­nen Im­mor­tel­len. Wer moch­te ihn ge­bracht ha­ben? Vi­el­leicht die letz­te Gri­set­te, die jetzt, alt und run­ze­lig, ir­gend­wo in der Nähe als Tür­sch­lies­se­rin ihr Le­ben fris­te­te. Das Gan­ze ist eine Sta­tu­et­te, das Werk Mil­let’s, an dem aber Schmutz und Ver­nach­läs­si­gung ihr Zer­stö­rungs­werk ver­rich­ten. O Ju­gend­lied, o Mür­ger!

      Hier war ich nun, auf dem Kirch­hof Mont­mar­tre, und plötz­lich