e-tot. Uwe Post

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Название e-tot
Автор произведения Uwe Post
Жанр Языкознание
Серия heise online: Welten
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783947619597



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dem Weg zu ihrer Dienststelle schießt Nele im Bus ein Selfie. Mit einer App montiert sie ein altes Bild von Tom daneben und ein Gartenfoto in den Hintergrund. Das Resultat sieht so aus, als würden die beiden gerade fröhlich in der Frühlingssonne tanzen.

      Nele lächelt zufrieden und postet das Bild in ihrer Timeline.

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      LEO1

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      Leo schwankt nach Hause. War wieder cool mit den Sportskameraden, und der neue Kumpel – wie hieß er doch gleich? – kickt gar nicht übel. Uuh … das war doch vielleicht ein Bier zu viel.

      Leo kotzt an einen Baum, es blinkt und glitzert. Tja, Luxus-Features halt, nicht jeder erbricht reines Gold. Der Schatz versickert im Boden, ist alles nur Deko, nichts wert, aber der Effekt unbezahlbar.

      Paul! Paul Aber-nicht-Pogba heißt der Knabe. Voll grinsend macht Leo, dass er nach hause kommt, da wartet frisches Goldkotz-Bier im Kühlschrank, und ein paar Upper müssten auch noch da sein. Auf das Zeug, das wie Libellen aussieht, fährt Leo besonders ab. Du lutschst sie, sie zappeln, vibrieren mit den Flügeln, auch noch im Bauch, ein echt geiles Feeling. Dagegen sind die echten Drogen, drüben im Reallife, wie trocken Brot, und noch dazu voll gefährlich.

      Wobei – es hatte ja auch ein paar Vorteile, das olle Leben. Leo fallen allerdings gerade keine ein. Damals musste Leo sich mit der Stütze und mit Kleinkriminalität über Wasser halten. Hier mal eine Oma verarscht, dort mal heimlich einen Kryptominer auf den PC eines Freundes geschmuggelt, ach ja, nicht zu vergessen die Karre. Parkte einmal vor dem Aldi und Leo sah, dass der Besitzer vergaß, sein E-Bike Marke Oberteuer Classic anzuketten. Ganz spontan klaute Leo das Teil, fuhr einfach los, ganz gemütlich. Schon cool, so ein Elektromotor. Ein überraschend lukrativer Job, noch dazu völlig abgasfrei.

      Tja, mit 22 hat man noch Träume. Tolle Träume. Also, wenn du die geilsten Drogen nimmst. Bloß sind die scheiße teuer. Teure Träume, die bezahlt werden wollen. Da kam der Russe gerade recht. 10.000 Jahre – wer kann dazu schon nein sagen? Also hat Leo unterschrieben, einen frischen Scan hochgeladen, und schwupp: Willkommen auf dem 1a-Luxusserver sansibar-1 von e-tot.de, deine verbleibende Mietdauer beträgt 9999 Jahre, 364 Tage, 23 Stunden und 59 Minuten.

      Was danach passiert ist, also mit seinem Körper – seinem »Ex«, wie er gern sagt –, egal. Leo hofft, dass die Narkose vernünftig gewirkt hat, bevor man ihm – nein, seinem Ex! – die Organe entnahm. Keine Ahnung, was sie mit dem Rest gemacht haben. Vielleicht hat der reiche Russe alles weiterverkauft, für das er keine Verwendung hatte, schließlich hatte sein Krebs weder Hornhäute noch Zehen befallen.

      Ab und zu erzählen die anderen Jungs von ihrer eigenen Beerdigung. Fast jeder hat ein Video davon, nicht jeder schaut es sich an. Leo hat kein solches Video, für ihn ist sein Erwachen auf e-tot.de seine Stunde null, das Davor: ihm doch egal.

      Fühlt sich an wie in einem anderen Leben, als wäre er ein neuer Mensch, hier und jetzt mit einer Lebenserwartung von knapp 10.000 Jahren.

      Leos Haustür erkennt ihn, öffnet sich mit einem warmen Grußton, drin wartet das Plätschern des Aquariums, in dem Dorie und Nemo schwimmen, ja, genau die, an die du denkst. Sie können sogar sprechen, aber im Moment sind sie auf mute, Leo will seine Ruhe. Er geht zum Kühlschrank, nimmt sich eine Dose Bier, dann geht er zum Drogenschrank und holt sich eine Libelle. Das Vieh summt und schimmert in allen Farben, ein so schöner Anblick, da möchtest du heulen.

      Aber Tote heulen nicht. Wozu auch? 10.000 Jahre! Okay, 9999 und ein paar Kaputte.

      Leo schluckt die Libelle runter. Ein Gefühl wie Flugzeuge im Bauch. Sie lenken ab. Lenken ab von der Angst. Von der Angst um die eigene Existenz. Nur noch 9999 Jahre, und Leo wird gelöscht. Dann ist alles vorbei. Für immer. Was sind schon 9999 Jahre? Ein Lidschlag der Weltgeschichte. Ein lächerlicher Moment, verglichen mit den zweihundert Millionen Jahren, die die Sonne braucht, um einmal ums Schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße zu kreisen.

      Nein, ich fange jetzt nicht mit den Dinosauriern an. Die hatten jedenfalls mehr Zeit als Leo. Okay, nicht jedes einzelne Individuum, aber … wer hat nicht alles den Untergang der Menschheit vorhergesagt! Abgesehen von den Zeugen Jehovas. Hundert Jahre, fünfzig Jahre? Diese Schwarzseher hatten ja keine Ahnung. Jetzt leben wir ewig, bloß hat auch die Ewigkeit leider ein allzu frühes Ende. Wie lang dauert denn die Ewigkeit der Götter genau? Weiß doch keiner genau, niemand wird es je herausfinden. Leben eigentlich Dinos im Paradies? Ach nee, nach ihnen war ja noch die Sintflut.

      Leo grinst, schließt genüsslich die Augen, während die Libelle ihre Vibrationen in seinen ganzen e-toten Körper schickt. Hier zuckt ein kleiner Finger, da der Bauchnabel – dass der das kann! – und nicht zuletzt … Du weißt schon.

      Als die Vibrationen nachlassen, geht Leo in seinem Haus spazieren. Es ist riesig, es hat einen Park, einen Teich, einen Patio, drei Ecken zum Grillen. Boah, letzte Woche, mit den Kumpels, da brannten alle drei Grills und die Steaks waren der Hammer!

      Im Wohnzimmer stützt sich Leo auf die Stuhllehne, schaut auf den Wandbildschirm, der gerade Werbung für einen neuen Arznei-Shop für E-Tote zeigt.

      »Zeig mir den Shop«, sagt Leo, und das Haus gehorcht wortlos. Sofort verwandelt sich die Wand in eine Glastür, deren rechter Flügel einladend aufschwingt.

      Leo tritt ein und süßliche Düfte und Musik heißen ihn willkommen. Vielleicht ein chinesischer Shop. Das ist gut, die haben laxere Kontrollen, die EU überwacht hier die Inhaltsstoffe nicht. Spaßbremsen!

      Neben einem Regal voller bunter Bonbons steht eine lächelnde Chinesin in einem traditionell gemusterten roten Kleid – natürlich ein Bot, aber was soll’s, sie soll ja bloß was verkaufen.

      »Heute Marken-Antidepressiva gratis, Sie zahlen nur die Versandkosten!«, säuselt die Chinesin mit deutlich hörbarem Akzent.

      »Steuerfrei, hm?«

      »Gut, dass uns das egal sein kann, nicht wahr?«, grinst die Chinesin.

      »Ich bin natürlich nicht depressiv«, sagt Leo.

      »Das macht nichts, unsere hochwertigen Medikamente wirken trotzdem!«, sagt die Verkäuferin. »Garantiert! Garantiert! Garantiert! Garantiert! Garan…«

      »Schon gut. Haben Sie Arcanum Premium Verum Extra

      »Selbstverständlich! Selbstverstän…«

      »Ich nehme eine Packung.«

      Die Chinesin hüpft vor Freude, vor ihr erscheint in einer bunten Sternchenwolke eine Packung mit einem weißbärtigen Zauberer darauf. Sie fängt die Schachtel auf, als sie vollständig materialisiert ist und anfängt, der Schwerkraft zu gehorchen, und reicht sie Leo.

      »Die Versandkosten wurden soeben von Ihrem Guthaben abgebucht! Natürlich völlig anonym und …«

      »Und was?« Leo will die Schachtel entgegennehmen, aber die Chinesin lässt sie nicht los. Der Bot ist mitten in der Bewegung erstarrt, zuckt ab und zu und kiekst noch einmal »und!«.

      Dann löst sich die Chinesin in Luft auf. Zugleich steht Leo wieder vor seiner Wand in seinem Wohnzimmer, und der Bildschirm zeigt den lapidaren Schriftzug »Verbindung abgebrochen«.

      Enttäuscht starrt Leo seine leere Hand an. Er kann nur hoffen, dass sie ihm nichts dafür abgebucht haben. Vergeudung kann er sich wirklich