Название | Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays |
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Автор произведения | Odo Marquard |
Жанр | Документальная литература |
Серия | Reclam Taschenbuch |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783159617145 |
Gerade diese Wende zur Skepsis jedoch – wiederholt und bekräftigt – musste skeptischer werden in Bezug auf sich selber: insbesondere angesichts des unbehaglichen Verdachts, sie wirke als indirekte Ermächtigung von Weltverbesserungsillusionen. Darum wurde es fällig, ihr Illusionspotential zu reduzieren: das Quantum quasigöttlicher Souveränität, das der Dauerzweifel zu enthalten scheint, an die Kette der Menschlichkeit zu legen und die Skepsis (meinethalben durch »existenzialistische« Akzentuierung) umzudefinieren zu einer Philosophie der Endlichkeit.
Darum wurden jetzt gleichwichtig mit dem Zweifel jene Züge, die die Skepsis – historisch belegbar – stets auch gehabt hat: die Ernstnahme des »Einzelnen« und die Bereitschaft, gemäß den »Sitten der Väter« zu leben, d. h. – wo es keine zwingenden Gründe fürs Abweichen gibt – nach Üblichkeiten zu handeln. Das ist für Menschen unausweichlich, weil sie Einzelne sind. Die Skepsis wünscht sich zwar den vermeidlichen Einzelnen: die gebildete Individualität. Aber sie rechnet mit dem unvermeidlichen Einzelnen: das ist jeder Mensch, weil er »unvertretbar« sterben muss und »zum Tode« ist.23 Dadurch ist das Leben des Menschen stets zu kurz, um sich von dem, was er schon ist, in beliebigem Umfang durch Ändern zu lösen: er hat schlichtweg keine Zeit dazu. Darum muss er stets überwiegend das bleiben, was er geschichtlich schon war: er muss »anknüpfen«. Zukunft braucht Herkunft: »die Wahl, die ich bin«24, wird »getragen« durch die Nichtwahl, die ich bin; und diese ist für uns stets so sehr das meiste, dass es – wegen unserer Lebenskürze – auch unsere Begründungskapazität übersteigt: Darum muss man, wenn man – unter den Zeitnotbedingungen unserer vita brevis – überhaupt begründen will, nicht die Nichtwahl begründen, sondern die Wahl (die Veränderung): die Beweislast hat der Veränderer. Indem sie diese Regel25 übernimmt, die aus der menschlichen Sterblichkeit folgt, tendiert die Skepsis zum Konservativen. »Konservativ« ist dabei ein ganz und gar unemphatischer Begriff, den man sich am besten von Chirurgen erläutern lässt, wenn diese überlegen, ob »konservativ« behandelt werden könne, oder ob die Niere, der Zahn, der Arm oder Darm herausmüsse: lege artis schneidet man nur, wenn man muss (wenn zwingende Gründe vorliegen), sonst nicht, und nie alles; es gibt keine Operation ohne konservative Behandlung: denn man kann aus einem Menschen nicht den ganzen Menschen herausschneiden. Das – unabsichtlich oder nicht – übersehen die, die den Begriff des Konservativen perhorreszieren. Analog lässt sich nicht alles ändern und darum nicht jegliches Nichtändern unter Anklage stellen: Deswegen bewirken die, die das – von den Geschichtsphilosophen bis zu den Diskursphilosophen – im Sinne einer »Übertribunalisierung der Wirklichkeit« tun, etwas anderes, als sie wollen. Das habe ich (mit Blick auf die Anfangskonstellation dieses Zusammenhangs) in dem 1978 geschriebenen Aufsatz »Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts« darlegen wollen, der hier tertio loco abgedruckt ist: Die Übertribunalisierer etablieren nicht die absolute Rationalität, sondern den »Ausbruch in die Unbelangbarkeit«, der für Freiheiten eintritt, die wir – vor aller prinzipiellen Erlaubnis – schon sind; dazu gehören Üblichkeiten. Weil wir zu schnell sterben für totale Änderungen und totale Begründungen, brauchen wir Üblichkeiten: auch jene Üblichkeit, die die Philosophie ist. Die Skeptiker rechnen also mit der sterblichkeitsbedingten Unvermeidlichkeit von Traditionen; und was dort – üblicherweise und mit dem Status von Üblichkeiten26 – gewusst wird, wissen auch sie. Die Skeptiker sind also gar nicht die, die prinzipiell nichts wissen; sie wissen nur nichts Prinzipielles: die Skepsis ist nicht die Apotheose der Ratlosigkeit, sondern nur der Abschied vom Prinzipiellen.
Demgegenüber will die prinzipielle Philosophie gerade prinzipiell und Prinzipielles wissen: darum fragt sie nach den Prinzipien und nach dem prinzipiellsten Prinzip. Dieses absolute Prinzip aber – das (wie immer es gedacht wird) stets sozusagen das Gewissen ist, das die Wirklichkeit haben soll – verwandelt die faktische Wirklichkeit insgesamt in das Unselbstverständliche, Kontingente, Ungerechtfertigte, das aus diesem unprinzipiellen oder gar konterprinzipiellen Status allererst durch prinzipielle Rechtfertigung (durch prinzipielle Begründung oder durch prinzipielle Veränderung) erlöst werden muss. Als derartige ›Verwandlung‹ der Wirklichkeit ins Rechtfertigungsbedürftige – als tendenzielle Tribunalisierung der Wirklichkeit – ist die prinzipielle Philosophie der fundamentale Spezialfall einer Veränderung. Wenn aber – sterblichkeitsbedingt – gilt: die Beweislast hat der Veränderer, dann (wenn also das Faktische das Apriori des Prinzipiellen ist, und zwar gerade durch seine Vergänglichkeit) muss die prinzipielle Philosophie zuerst nicht das Faktische, sondern zuerst sich selber rechtfertigen.27 Doch beide Rechtfertigungen der prinzipiellen Philosophie – die Rechtfertigung des Prinzipiellen vorm Faktischen und die Rechtfertigung des Faktischen vorm Prinzipiellen – kommen entweder zu leer oder zu spät: nämlich, als unendliche Antwort an ein endliches Wesen, stets erst nach dessen Tod. Falls der transzendentale Hase als Überbringer der prinzipiellen Botschaft – unwahrscheinlicherweise – wirklich einmal gerannt käme (und dabei nicht von nichts, sondern wirklich von etwas wüsste), läge der endliche Swinegel immer schon da: tot. Das Prinzipielle ist lang, das Leben kurz; wir können mit dem Leben nicht warten auf die prinzipielle Erlaubnis, es nunmehr anfangen und leben zu dürfen; denn unser Tod ist schneller als das Prinzipielle: das eben erzwingt den Abschied vom Prinzipiellen. Darum muss der endliche Mensch – einstweilen, in provisorischer Moral: aber jedenfalls bis zu seinem Tod – ohne prinzipielle Rechtfertigung leben (so dass das Gewissen jeweils mehr Einsamkeit ist als Universalität; Mündigkeit ist vor allem Einsamkeitsfähigkeit): er muss kontingent und aus Kontingenzen heraus existieren, die aber für ihn – den Anknüpfenmüsser, der nicht vor ihnen steht wie Buridans Esel vor den Heuhaufen, sondern der in ihnen steckt und stets nur wenig herauskann – keine beliebig wählbaren und abwählbaren Beliebigkeiten sind, sondern (als die Nichtwahl, die er ist) unverfügbare und kaum-entrinnbare Schicksale. Deswegen – das macht der 1976 geschriebene und hier quarto loco abgedruckte Aufsatz »Ende des Schicksals? Einige Bemerkungen über die Unvermeidlichkeit des Unverfügbaren« geltend – wurde zwar das Schicksal theologisch-metaphysisch durch das absolute Prinzip des einen Gottes verdrängt; aber das verdrängte Schicksal kehrte – spätestens nach dem »Ende Gottes«, durch das die Neuzeit entstand – unverzüglich wieder: als die »Unverfügbarkeit der Vorgaben« und die »Unverfügbarkeit der Folgen«. Aus Kontingenzen zu leben, d. h., ein Schicksal zu haben ist – wegen ihrer Sterblichkeit – für die Menschen unvermeidlich.
All diese Überlegungen verabschieden die prinzipielle Philosophie; aber sie verabschieden nicht die unprinzipielle Philosophie: die Skepsis. Sie verabschieden für die Menschen die prinzipielle Freiheit; aber sie verabschieden nicht die wirkliche Freiheit, die