Название | Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays |
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Автор произведения | Odo Marquard |
Жанр | Документальная литература |
Серия | Reclam Taschenbuch |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783159617145 |
Denn – ich wiederhole es – die Wende zur Skepsis war – für jene Generation, zu der ich gehöre – nicht das Außergewöhnliche, sondern das Normale; außergewöhnlich war nur, dass ich mit dieser Wende zur Skepsis unter die Philosophen geriet und dann auch noch bei ihnen blieb. Denn Philosophie als Studium: das bedeutet – damals wie heute – in aller Regel nicht den Beginn einer erfolgreichen Karriere, sondern den Beginn einer persönlichen Tragödie, jedenfalls keinen »Konkretismus«; ich befand mich also – als Philosophiestudent, der außerdem Germanistik und daneben zunächst Kunstgeschichte, dann Geschichte, schließlich evangelische Systematische Theologie und ein wenig katholische Fundamentaltheologie studierte – gewisslich nicht auf dem Weg der »vorsichtigen, aber erfolgreichen jungen Männer« (S. 488) mit »geschärftem Wirklichkeitssinn« für »das Praktische, Handfeste« (S. 88): das – beim Zeus! – nun gerade mit Sicherheit nicht. Mitgrund für diese Blockade des »Konkretismus« bei mir mag gewesen sein: 1940–1945 – bis unmittelbar nach meinem 17. Geburtstag – war ich auf einer politischen Internatsschule4, einer späten und extremen Sozialisationsagentur der »Generation der politischen Jugend«: Ich kam – solide ausgebildet einzig in Weltfremdheit – (nach Kriegsende und kurzer Kriegsgefangenschaft) retardiert in die geschichtliche Wirklichkeit der skeptischen Generation hinein und schaffte – zusätzlich gebremst durch die akademische Entlastung von den Lebensfristungsnotwendigkeiten des Tages – zunächst nur die eine Hälfte ihres Generationspensums: also nicht den realitätstüchtigen »Konkretismus«, sondern nur die Skepsis. Just das freilich brachte mich zur Philosophie, und zwar auf dem Weg über die Ersatzbegeisterung an der Kunst – dem Versuch, durch Töne, Bilder, Worte die Wirklichkeit aussehender zu machen als Verlockung zum Lebenbleiben – und ihrer Verführung, sich gerade nicht zu verwirklichen, sondern zu vermöglichen: also über das Ästhetische.
Darum war es – nach dem temperierten Zufall, dass ich in der damaligen Numerus-clausus-Zeit 1947 nicht in Marburg und nicht in Kiel, sondern in Münster zum Studium zugelassen wurde – kaum ein Zufall, dass ich dort alsbald an jenen Philosophen geriet, der mein Lehrer wurde: Joachim Ritter; denn er begann damals seine Philosophische Ästhetik zu lesen, die – als Kompensationstheorie des Ästhetischen5 – die »Position der Möglichkeit« beschrieb und kritisierte und mich dadurch unmittelbar ansprach. Es war übrigens diese Vorlesung, durch die – noch vor seinen späteren Vorlesungen zur Praktischen Philosophie, in denen er seinen Ansatz positiv formulierte – Ritter die Älteren jener bunten und standpunktkontroversen Gruppe als Schüler gewann, die in der späteren Institutionengeschichte der bundesrepublikanischen Philosophie als derjenige Flügel des hermeneutischen Denkens wirksam geworden ist, der die Praktische Philosophie rehabilitierte: eben als Ritter-Schule, deren Lebendigkeit auch aus der »heterogenen Zusammensetzung des ›Collegium Philosophicum‹ Ritters« resultierte, »das Thomisten, evangelische Theologen, Positivisten, Logiker, Marxisten und Skeptiker vereint«6. Denn Ritter verpflichtete seine Schüler nicht auf seine eigenen Thesen7. Diesseits seiner Thesen habe ich von ihm gelernt: dass Merken wichtiger ist als Ableiten; dass niemand von vorn anfangen kann, dass jeder anknüpfen muss: also den Sinn fürs Geschichtliche; dass Widersprüche notfalls ausgehalten werden müssen gegen den Schein ihrer Auflösung; dass solche Widersprüche eindrucksvoller präsent sind durch Personen als durch Lektüren und dass dies verlangt: mit fremden Einstellungen leben und von ihnen lernen können; dass also die buntere Philosophenkonstellation die bessere ist; im Übrigen den Sinn fürs Institutionelle und seine Pflichten; und schließlich: dass Erfahrung – Lebenserfahrung – unersetzlich ist für die Philosophie. Erfahrung ohne Philosophie ist blind; Philosophie ohne Erfahrung ist leer: man kann keine Philosophie wirklich haben, ohne die Erfahrung zu haben, auf die sie die Antwort ist. Erfahrung aber braucht Zeit. Darum konvergierten die Ritter-Schüler in ihren inhaltlichen Thesen nicht im Studium und in den Lehrjahren, sondern erst Jahrzehnte später: als sie ihrerseits über Erfahrungen verfügten, die ihnen nunmehr Ritters eigene philosophische Antworten plausibel machten; es existiert – das bemerke ich heute – in der Ritter-Schule eine Schulkonvergenz als langfristige Spätwirkung. Damals jedoch, in der Studienzeit, gab es – begrenzt einzig durch institutionelle Pflichten und die Spürbarkeit jener Sorge, die sich Ritter um jeden von uns machte – beim Denken alle Freiheit: auch die, ein Skeptiker zu sein.
Den »interimistischen Skeptizismus« als »Position im nautischen Sinn« habe ich 1958 in meinem Buch Skeptische Methode im Blick auf Kant zu formulieren versucht: es war die (fast gänzlich umgeschriebene) Druckfassung jener Dissertation, mit der ich – Ritter war für drei Jahre nach Istanbul gegangen – 1954 in Freiburg promovierte, generös gefördert durch meinen Doktorvater Max Müller8. Das Buch galt als stilistisch eigenwillig: Form – Zeitdruckersatz unter Mußebedingungen – gehört als Mittel der Beliebigkeitsersparung zu den Produktionsschrittmachern beim Schreiben für den, dem Schreiben nicht leicht fällt. In einen ›Lebenslauf‹ geht normalerweise Wichtiges nicht ein: das Intime, das Schwere (es gibt das Grundrecht auf Ineffabilität); ich meine – und begann damals zu meinen –, dass man in der Philosophie dauerhafteren Umgang nur mit solchen Gedanken suchen sollte, die man auch in schweren Lebenslagen noch bemerkt und mit denen man es notfalls ein Leben lang aushalten kann. Das schließt – wie ich vor allem bei Kierkegaard und Heine lernte – die Suche nach der leichten und pointierten Formulierung nicht aus, sondern gerade ein; das ästhetische Kompositions- und Formulierungsspiel ist nicht das Gegenteil, sondern ein Aggregatzustand des Ernstes: jener, der den Ernst so ernst nimmt, dass er es für notwendig hält, ihn aushaltbarer zu machen. Dadurch fand ich zu meinem Genre: zur Transzendentalbelletristik.
2. Nachträglicher Ungehorsam. Das intellektuelle Klima der Bundesrepublik änderte sich: der »skeptischen Generation« folgte eine neue »Generation der politischen Jugend«. In der Philosophie ging ihr voraus der Erfolg der »Frankfurter Schule« nicht zuletzt bei den nunmehr Älteren. Auch auf mich hat die »Kritische Theorie« Horkheimers und Adornos wesentlichen Eindruck gemacht; Herbert Marcuses Eros and Civilization9 habe ich 1956 im Lesekreis des »Collegium Philosophicum« zustimmend und werbend referiert: Ich arbeitete damals schon an meiner Habilitationsschrift über Schelling und Freud10 mit der These: die Psychoanalyse ist – philosophisch gesehen – die Fortsetzung des deutschen Idealismus unter Verwendung entzauberter Mittel.
Freud benutzte – insbesondere in Totem und Tabu11 auch für die Theorie des Gewissens – den Begriff des »nachträglichen Gehorsams« (S. 173–175): die Söhne in der »Urhorde«, die den Vater ermordet hatten, »widerriefen ihre Tat, indem sie die Tötung des Vaterersatzes, des Totem, für unerlaubt erklärten, und verzichteten auf deren Früchte, indem sie sich die freigewordenen Frauen versagten« (S. 173); die »Totemreligion« war – wie dann auch das Gewissen – »aus dem Schuldbewusstsein der Söhne hervorgegangen als Versuch, dies Gefühl zu beschwichtigen und den beleidigten Vater durch