Название | Minarett |
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Автор произведения | Leila Aboulela |
Жанр | Языкознание |
Серия | Lenos Babel |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783857879845 |
Ich dachte an Anwar und an die Welten, die ihn von dieser Party trennten. Er kannte weder Randa noch meinen Cousin Samîr. Wenn ich ihn jetzt an der Uni traf, sagte er hallo, und ich sagte auch hallo, und das war’s. Manchmal sah er mich an, als wollte er mehr sagen, aber er liess es sein. Er schien mit seinen Aktivitäten für die Front sehr beschäftigt zu sein. Was er mir erzählt hatte, ging mir nicht aus dem Kopf, und ich versuchte mir einen Reim darauf zu machen. Warum ich erschrocken war, als er sagte: »So kann es in unserem Land nicht weitergehen« oder »Dieses System ist dem Untergang geweiht«. Er hatte mir inzwischen erzählt, dass seine jüngste Schwester blind war und in Deutschland operiert werden könnte, wenn sie das Geld zusammenbrächten. Wir reisten jedes Jahr nach Europa, verbrachten den Sommer in unserem Apartment in London oder in Hotels in Paris und Rom und gingen auf Shoppingtour. Wenn wir in einem Sommer mal zu Hause blieben, könnte Anwar das gesparte Geld haben und seiner kleinen Schwester die Operation ermöglichen. Als ich noch ein Kind war, bevor ich in die Oberstufe kam, hatte ich mich mit Mama und Baba solcher Dinge wegen angelegt. Ich gab das ganze Geld, das ich zum Id12 bekommen hatte, einer Mitschülerin. Ich schenkte meinen goldenen Ohrring dem äthiopischen Dienstmädchen. Sie wurde gefeuert, und das Mädchen bekam Schwierigkeiten mit der Schulleiterin. »Es gibt da Regeln«, sagte Mama immer, »du kannst nicht nach Lust und Laune Almosen verteilen – man wird dich dafür verachten und für dumm halten.«
Ich lernte diese Regeln: Gib nur Kleider weg, die du getragen hast. Gib gerecht, und gib angemessen. Gib, was erwartet wird. Du kannst die Leute beleidigen, wenn du ihnen zu viel gibst. Du kannst sie verwirren. Du bringst vielleicht Leute in Verlegenheit mit teuren Geschenken, die sie nicht erwidern können. Gib nie einem Einzelnen etwas und seinen Freunden und seinen Geschwistern nichts. Denk nach. Denk nach, bevor du gibst. Erwartet man es von dir?
Ich blieb auf, bis Omar nach Hause kam. Einer seiner Freunde brachte ihn bis zum Tor, und er wankte die Auffahrt herauf, stolperte auf den Stufen zur Veranda und fiel einmal fast hin. Er sah mich nicht, bis ich ihn ansprach. Auf einer Seite unserer Veranda war eine Bank in die Mauer eingelassen. Dort legte er sich hin, starrte zum Himmel hinauf und liess eine Hand herunterbaumeln. Er roch wieder, ein süsslich-rauchiger Geruch, anders als Bier.
»Du sitzt tief in der Tinte«, sagte ich zu ihm. Er drehte nicht einmal den Kopf nach mir. »Ich hab ein Pulversäckchen in deiner Schublade gesehen.«
»Hast du’s genommen?« Seine Stimme klang ruhig, aber wacher.
»Nein, aber ich werde es Baba sagen.«
»Keine Bange, Nadschwa.« Er lallte. »Es ist bloss Hasch. Macht nicht süchtig – etwas stärker als eine Zigarette, das ist alles.«
»Denkst du, es wird Baba gefallen, dass sein Sohn Haschisch raucht?«
»Wird es ihm denn gefallen, dass seine Tochter mit einem Kommunisten geht?«
»Es ist aus zwischen mir und Anwar.«
»Ihr habt euch bloss gestritten, das wird schon wieder.« Er rollte sich auf die Seite und sah mich im Dunkeln an. »Und weisst du, was Baba dann tun wird? Er wird ein paar Schläger ausschicken, die ihn verprügeln sollen. Und wenn er seinen Abschluss macht, wird er dafür sorgen, dass keiner ihm einen anständigen Job gibt.«
Ich atmete schwer. »Du erzählst Unsinn – dieses Zeug hat dich durcheinandergebracht. So was würde Baba nie tun.«
Er lachte. »Er würde alles tun, um seinen Augenstern zu beschützen.« Er drehte sich wieder auf den Rücken, und wir waren still. Er begann regelmässig zu atmen, als ob er gleich einschlafen würde.
»Du gehst besser rein, bevor sie zurück sind.«
Er grunzte.
»Hier, nimm die Taschenlampe.« Ich drückte sie ihm in die Hand.
Er ging ins Haus, und schon sah ich die Scheinwerfer von Babas Auto näher kommen. Er hupte, und unser Nachtwächter ging das Tor aufschliessen. Räder knirschten über den Kies, und ich hörte Mama beim Aussteigen fragen: »Wann sind denn die Lichter hier ausgegangen?«
Ich ging zu Baba hinüber und drückte ihn, als fürchtete ich mich vor etwas und er könnte die Angst verscheuchen. Er roch nach Grillfleisch und offiziell verbotenem Whisky. Ich wich vor ihm zurück. Mama sah müde aus und liess die Schultern hängen. Selbst im Mondlicht konnte ich sehen, dass die Mascara um ihre Augen verschmiert war. Wir stiegen die Stufen zur Veranda hinauf. Sie erkundigten sich nicht nach der Party und setzten das Gespräch fort, das sie schon im Wagen geführt hatten.
»Er wird es durchstehen«, meinte Baba, »er hat nicht zum ersten Mal mit Widerstand zu kämpfen.«
»Hoffentlich«, sagte sie. »Alles, was ihm schadet, wird auch uns schaden.«
Ich öffnete die Haustür. Das Licht war wieder da und blendete mich.
Sieben
Baba teilte nicht oft seine Wünsche mit uns, aber an jenem Tag tat er es. Wir waren auf der Farm, und er trug ein Safarihemd. Er war ein wenig gereizt, weil er die Familientreffen, die meine Mutter organisierte, nicht mochte. Er zog Treffen mit Geschäftsfreunden und nützliche Kontakte diesen Picknicks vor, bei denen man den ganzen Tag Karten spielte und pausenlos ass. Er lehnte sich in seinem Liegestuhl zurück und blickte auf, als ein kleines Flugzeug vorbeiflog, das Pestizid versprühte. »Eines Tages werde ich meinen eigenen Privatjet haben«, verkündete er. »In höchstens drei Jahren – es ist alles geplant!«
»Wow«, sagten Omar und ich gleichzeitig. Wir sassen auf einer Picknickdecke im Gras.
»Denkt an euren Vater, Kinder. Ich habe mal mit nichts angefangen. Kein Vater, keine gute Ausbildung, nichts. Und jetzt werde ich mir einen Privatjet leisten können.«
»Ich werde ihn fliegen lernen«, sagte Omar. »Ich werde mich ausbilden lassen dafür.«
Baba musterte uns über seine Brillengläser mit Goldrand und fragte: »Wie alt seid ihr jetzt eigentlich?«
»Neunzehn«, antwortete Omar.
»Neunzehn schon? Und du auch, Nadschwa?«
»Ja.« Ich lächelte.
Er neckte uns: »Ich hatte geglaubt, ihr wärt achtzehn.«
»Das war letztes Jahr«, sagte Omar. Ich lachte. Es war selten der Fall, aber heute waren Omar und ich in denselben Farben gekleidet. Wir trugen beide Wrangler-Jeans, dazu hatte ich einen beigen Rollkragenpullover an und er ein langärmliges beiges Hemd. Mama kam und machte ein Foto von uns. Jahre später, als alles in Trümmern lag, war dieses Foto immer noch da. Omar und ich lächelten, eine rosa Blume steckte in meinem Haar, ich hatte die Beine übereinandergeschlagen und stützte den Ellbogen auf mein Knie und mein Kinn in die Hand. Omar sass daneben, sein Rücken dicht an meinem Arm, mit leuchtenden Augen und ausgestreckten Beinen, eine Hand lässig auf dem Recorder, während die Kassetten wild durcheinander auf seinem Schoss und auf dem rotkarierten Teppich lagen. Jahre später, als alles in Trümmern lag, kniff ich die Augen zusammen und versuchte, anhand der Farben und Inschriften die Kassetten auf dem Teppich zu erkennen, Kassetten, die wir im Sommerurlaub in London gekauft hatten: Michael Jackson, Stevie Wonder, Hot Chocolate und meine Kassetten von Boney M.
Der freie Fall begann in jener Nacht, lange nach dem Picknick und nach dem Barbecue, als die Gäste längst gegangen und auch wir wieder zu Hause waren. Nach dem Kebab am Spiess und dem Erdnusssalat, nach den gekochten Eiern, Wassermelone und Guave. Wir fuhren still nach Hause, denn wir waren alle müde. Ich wusch mein Haar noch spätabends, weil es so staubig geworden war. Ich untersuchte einen Ameisenbiss am Ellbogen. Es war ein geschwollener Buckel, und ich konnte nicht aufhören zu kratzen. Der Telefonanruf kam spätnachts, als fast schon der Morgen dämmerte. Ich hörte ihn und dachte, es sei jemand gestorben. Es war auch schon vorgekommen, dass ein naher Freund oder Verwandter im Sterben lag und Mama und Baba mitten