Название | Das Meer, die Liebe, der Mut aufzubrechen |
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Автор произведения | Andrea Marcolongo |
Жанр | Языкознание |
Серия | Transfer Bibliothek |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783990371084 |
Die Königin senkte das Haupt und antwortete leise:
Wenn nun doch allen dieser Wunsch gefällt, möchte ich jetzt auch einen Boten zum Schiff senden!
Und sofort brach eine Sprecherin auf, um den Seefahrern zu sagen, sie dürften als Freunde die Stadt betreten, ohne Angst. Und dass die Königin sich freue, den Anführer des Zuges zu empfangen.
Hypsipyle wusste nicht, dass der Anführer des Zuges kein Mann war.
Er war ein Junge, Jason, der sich noch nie verliebt hatte, der vielmehr die Liebe aus Angst zurückgewiesen hatte, bevor sie sich ereignen konnte.
Als die wunderschöne, unerschrockene Jägerin Atalante vorgeschlagen hatte, die Argonauten zu begleiten, hatte Jason sie aus Angst vor dem, was die Leidenschaft bei Menschen auslöst, davon abgebracht – er wollte keine Frau an Bord, er wusste nicht, was er sich von ihr erwarten sollte, er glaubte, Eros sei Krieg und nicht Bündnis.
Jetzt würden sich der Anführer der Argonauten und die Königin von Lemnos zum ersten Mal treffen.
Sie einte dieselbe Einsamkeit und dieselbe Feigheit – und das Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden.
Eines Sommermorgens unterhielt ich mich mit einem Freund, der mich schon seit langer Zeit im Handwerk der Sanftheit unterrichtet, einem Handwerk, bei dem ich noch ein Lehrling bin.
Ich erzählte ihm, ich sei unfähig zu weinen und verspüre stets Trauer und Müdigkeit. Ich fühlte mich immer so.
„Dich beschwert vieles“, hat er gesagt.
„Und wie werde ich es los?“, fragte ich umgehend.
Er hat mit einem einzigen Wort geantwortet, einem Wort mit einem wunderbaren Klang, das keinen Widerspruch duldet:
„Liebe.“
Ahnungslos machte sich Jason in die Stadt auf, einem schimmernden Stern gleich – wie der Vollmond, den Frauen und Männer in Sommernächten staunend betrachten, um sich lebendig zu fühlen.
Und nachdem sie also durch die Tore und in die Stadt getreten waren, drängten sich die Frauen des Volkes von hinten heran, voll Freude über den Fremden. Der aber ging, die Augen auf die Erde gerichtet, ohne Scheu, bis er zum prangenden Palast Hypsipyles kam.
Die Königin saß auf ihrem Thron.
Als sie ihn sah, errötete sie und ihre Wangen färbten sich in der Farbe des Granatapfels. Hypsipyle war lebendig wie eine nature morte: eine Gattung der Malerei und der Fotografie, die auf Deutsch und Englisch mit einem entgegengesetzten, wunderbaren Namen bezeichnet wird: Stillleben, still life. Wortwörtlich „regloses Leben“, nicht Tod, sondern noch Leben, denn in diesen saftigen Früchten ist noch viel Leben, sie liegen jedoch unbeweglich vor einem undefinierten Hintergrund und niemand kann in sie hineinbeißen. Ihren Geschmack kann man nur anhand des Spiels von Licht und Schatten erahnen, so wie sich die Gefühle der Frau zunächst nur durch ihr Erröten offenbarten.
Doch nun redete sie ihn mit sorgfältig gewählten Worten an.
Aus Scham zog die Königin es vor zu lügen.
Sie zog es vor, fast die Wahrheit zu sagen – unter diesem fast verstecken wir aus Verlegenheit oder aus Angst vor dem Urteil der anderen unsere Aufrichtigkeit, weshalb wir letzten Endes nicht mit leidenschaftlicher Genauigkeit, sondern mit einstudierter Beliebigkeit von uns sprechen.
Hypsipyle erzählte dem Fremden zwar von der Einsamkeit und der Traurigkeit der Frauen auf der Insel, sagte jedoch, dass die Männer ausgewandert seien, um das schneereiche Ackerland Thrakiens zu pflügen. Auch die Söhne seien ihnen in die Fremde gefolgt.
Gleich darauf bot sie Jason das Königsamt auf der Insel an, sofern er sich bereit erklärte, gemeinsam mit seinen Gefährten hierzubleiben und sie zu bewohnen: Lemnos würde ihnen gewiss gefallen, denn die Insel hat hohe Saat, mehr als andere Inseln, so viele im Ägäischen Meer bewohnt sind.
Die Königin rühmte also die Fruchtbarkeit ihres Landes, verschwieg aber die Unfruchtbarkeit eines Lebens ohne Liebe.
Tatsächlich sprach sie nicht in Worten über das Unglück Lemnos’, sondern in Form von Andeutungen, die die Worte verbergen.
Wir, die wir keine Worte mehr haben, sind heutzutage aufgerufen, uns zu dekonstruieren statt aufzubauen. Unseren Nächsten in Einzelteile zu zerlegen, um ihn besser zu verstehen – als ob er ein Puzzle oder ein Legoturm wäre – ein Turm aus Bausteinen, die die Fantasie in eine Form pressen. Nicht zufällig erinnert mich der Name immer an ein unregelmäßiges griechisches Verb λέγω (lègõ), das reden bedeutet.
Wie der Philosoph Wittgenstein sagte, sind die Grenzen unserer Sprache auch die Grenzen unserer Welt, unsere Worte schaffen sie, machen sie klein oder riesig groß, wie die bunten Landschaften, die wir als Kinder bauten.
Wir müssen uns selbst und die anderen anhand winziger, fast unbedeutender Gesten interpretieren, denn die Andeutung ist mittlerweile die einzige wirklich aufrichtige Sprache, während wir bewusst stumm bleiben.
Wir seufzen allein und glauben, niemand würde uns im Nebenzimmer hören.
Wir entschuldigen uns übermäßig, auch wenn gar nichts Schwerwiegendes vorgefallen ist – in Wirklichkeit entschuldigen wir uns für etwas, von dem der andere nichts wissen kann.
Ein Schweigen, das nicht Friede, sondern eine Kriegserklärung ist.
Eine neue Kunst macht sich breit, die Philologie der SMS, sie wird von Freunden praktiziert, die wir wie in ein Konklave rufen, damit sie die Botschaften unserer Lieben entziffern. Die Worte, die auf dem Bildschirm leuchten, bringen nie und nimmer die Gedanken des Absenders zum Ausdruck – wir vertrauen ihnen nicht, wir suchen das Gesagte im Nichtgesagten, denn das wollen wir hören.
Oft haben wir recht. Und tun gut daran, nicht zu vertrauen.
Aufgrund einer merkwürdigen Ironie vertrauen wir unsere wahren Gedanken den Postskripta an, als ob sie uns abhandengekommen wären wie ein abgerissener Knopf – denen wir dann weitere ungesagte Worte, weitere P.P.S. usw. hinzufügen.
Post Scriptum ist ein lateinischer Begriff, der hinzugefügt bedeutet, danach geschrieben, nachdem der Brief bereits unterzeichnet wurde, nachdem man sich bereits verabschiedet hat, danke und auf Wiedersehen.
Als ob wir davor nicht reden wollten und konnten und die Realität uns instinktiv entglitte – erst danach, nie davor. Vor allem.
‚Hypsipyle, gern möchten wir die herzfreuende Hilfe annehmen, die du uns, die wir deiner bedürfen, gewährst. Ich aber werde wieder zur Stadt zurückkommen, wenn ich alles im Einzelnen der Reihe nach berichtet habe. Um die Herrschaft aber und um die Insel sollst du selbst besorgt sein!
Ich jedenfalls leiste ohne Geringschätzung auf sie Verzicht, doch mich drängen traurige Mühsale.‘ Sprach’s und berührte ihre rechte Hand.
Jason war der Königin für ihr Angebot dankbar, doch er war entschlossen, nach dem kurzen Aufenthalt auf der Insel weiterzufahren.
Das ferne Kolchis und das Goldene Vlies warteten auf ihn, er konnte nicht den Thron von Lemnos besteigen, der nicht der seine war: Er war unterwegs, um den Thron von Iolkos zurückzuerobern.
Doch er zögerte nicht, die Königin mit einer zärtlichen Geste zu trösten, einer Geste, die besser tröstet als tausend Worte: Er berührte zart ihre Hand.
Eine Liebkosung. Die erste in Hypsipyles Leben.
Erinnern Sie sich noch daran, als jemand zum ersten Mal Ihre Hand in die seine genommen und Sie fortgeführt hat?
Egal, ob er Sie über den Gang einer Schule, in einen kleinen Park oder im Sommer an einen Strand geführt hat, Sie haben seinen selbstsicheren Blick geliebt, Sie haben sich von jemandem irgendwohin führen lassen.