Apotheker Melchior und das Rätsel der Olaikirche. Indrek Hargla

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Название Apotheker Melchior und das Rätsel der Olaikirche
Автор произведения Indrek Hargla
Жанр Языкознание
Серия Hansekrimi
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783863935207



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ließ sofort die Sturmglocke läuten, doch wonach oder nach wem sollte man suchen? Die halbe Nacht lang hatte der Komtur alle Ritter, Knechte und Knappen verhört. Niemand hatte etwas Besonderes gehört oder gesehen.

      »Um acht Uhr«, murmelte Melchior vor sich hin, als der Komtur fertig erzählt hatte. »Damit wissen wir also, dass der Mörder in die Unterstadt geflohen ist.«

      »Was willst du denn da schon wissen?«, fragte Spanheim. »Du kannst noch gar nichts wissen. Das Schwert und die Blutspuren fanden wir erst in der Morgendämmerung.«

      »Ein Schwert?«, fragte Melchior neugierig.

      »Ja, die Mordwaffe. Das Schwert gehörte einem Ordensknecht, der Mörder hatte es aus der Burgschmiede gestohlen. Der Schmied war natürlich vollkommen betrunken und ich habe ihn bereits in Ketten legen lassen. Das Schwert haben wir bei Sonnenaufgang beim Torturm am Kurzen Domberg entdeckt, am Grabenrand. Außerdem fanden wir Blutspuren an der Turmwand und auf den Pflastersteinen vom Haus des Vasallen bis hin zum Torturm. Der Mörder hatte das Schwert in den Graben geworfen, aber die Morgensonne spiegelte sich darauf und so haben wir es gleich gefunden. Nun interessiert mich, wie du schon wissen willst, was wir erst später herausgefunden haben?«

      »Die Tore werden bei Sonnenuntergang geschlossen und danach gelangt niemand mehr vom Domberg in die Unterstadt«, antwortete Melchior ehrerbietig.

      »Und weiter?«, fragte der Komtur.

      »Der Mörder musste sich beeilen, um seine Tat noch vor Toresschluss zu vollbringen. Würde der Täter auf dem Domberg wohnen, hätte er vernünftigerweise bis zur Nacht gewartet, wenn niemand mehr auf den Straßen unterwegs ist und auch von Clingenstain und Jochen eingeschlafen sind. Doch nein, er verrichtete seine Bluttat am Abend, so dass er noch durch die Stadttore entwischen konnte«, antwortete Melchior.

      »Genau das habe ich mir auch gedacht«, sprach der Komtur. »Er muss das Tor passiert haben, kurz bevor die Wächter kamen und das Tor abschlossen.«

      Melchior fuhr eifrig fort: »Wahrscheinlich hatte er das Schwert unter seinem Mantel versteckt und es sicherheitshalber bis zum Tor mitgenommen, damit er sich hätte verteidigen können, wenn der Mord sofort entdeckt worden wäre. Daraus können wir folgern, dass er Soldat gewesen ist oder ihm das Kämpfen zumindest nicht fremd war. Dann ging er durch die Dompforte und bei der Pforte am Kurzen Domberg warf er das Schwert fort, weil er sich bereits auf Stadtgebiet befand. Er fühlte sich in Sicherheit, weil er wusste, dass ihm die Ordensleute hier nichts mehr anhaben konnten. Es deutet also alles darauf hin, dass er wirklich in die Stadt geflohen ist.«

      Der Komtur starrte Melchior überrascht an. Dorn machte den Mund auf, sagte dann aber doch nichts.

      »Ganz bestimmt ist der Mörder auch aus der Stadt gekommen«, sagte Spanheim dann. »Daran besteht kein Zweifel. Aus der Burg ist ihm niemand durch das Seitenportal gefolgt, das kann der dortige Wächter bestätigen. Das Haus des Vasallen steht direkt am Wallgraben, in der Nähe der Dompforte. Die Tat muss ein Fremder vollbracht haben, ein niederträchtiger und ruchloser Fremder, der sich aus der Stadt hergeschlichen und den richtigen Moment abgepasst hat. Verteufelt, ich kenne jeden hier auf dem Domberg und ich kann schwören, dass kein einziger der Vasallen Clingenstain gegenüber – Friede seiner Asche – Hass gehegt hat. Niemand hatte ihn je zuvor gesehen! Ganz abgesehen davon, dass sich die Vasallen zur Zeit gar nicht hier aufhalten und in der großen Festung nur die Leute des Bischofs und Bäcker und Knechte wohnen. Und ich habe in der Nacht nachzählen lassen – es fehlt niemand.«

      Dorn, der lange geschwiegen hatte, wagte nun zu äußern: »Aber auch in der Unterstadt hat den edlen Rittersherren doch niemand gehasst? Eher im Gegenteil, wir hier in Reval sind ihm und dem Orden dankbar, dass sie uns von der Plage der Vitalienbrüder befreit haben.«

      Der Komtur runzelte die Stirn: »Aber jemand aus dieser unserer dankbaren Stadt hat ihm dennoch den Kopf abgeschlagen, Herr Gerichtsvogt.«

      »Und das ist doch seltsam«, meinte hierauf Melchior. »Wie ist es möglich, sich auf den Domberg zu schleichen, hier ein Schwert zu stehlen und sich zu verbergen, bis sich am Abend ein passender Augenblick für den Mord ergibt? Wie der ehrenwerte Komtur selbst gerade erwähnte, hat niemand etwas Verdächtiges gehört oder gesehen. Deshalb gehen auch meine Gedanken in die Richtung, dass der Täter jemand sein muss, der den Domberg gut kennt, der weiß, sich hier zu verstecken und ein Schwert zu stehlen und dessen Anblick hier absolut alltäglich ist. Ein ausländischer Kapitän oder Schiffsjunge, deren Schiff im Hafen liegt, verirrt sich nicht einfach so auf den Domberg.«

      »Jegliche Herumtreiber werfen wir hier sofort raus«, stellte Spanheim klar.

      Das ist wahr, dachte Melchior. Die Leute aus der Unterstadt konnten nicht einfach so auf dem Domberg herumschlendern, Bettler und Landstreicher gleich gar nicht. Jedes fremde Gesicht erregte Aufmerksamkeit.

      »Das heißt, ein Herumtreiber war hier gestern doch«, fiel dem Komtur dann ein. »Dieser Sänger ... ich muss gestehen, er sang recht gut, es war eine reine Lust ihm zuzuhören ... dieser Bursche aus Nürnberg.«

      Melchior war überrascht. Kilian auf dem Domberg?

      »Meint der Herr Komtur den Kostgänger des Herren Tweffell, Kilian Rechperger?«, fragte er.

      »Ja, den meine ich. Er hat Tweffell hierher begleitet. Und er wollte eine Urkunde.«

      »Folglich ist auch Herr Tweffell auf dem Domberg gewesen? Der Oldermann der Großen Gilde?«

      »Ja, der Oldermann war gestern hier«, nickte der Komtur. »Er hatte mit Clingenstain ein Handelsgeschäft zu besprechen. Soweit ich mich erinnere, ging es um ein Schiff, und Tweffell verließ den Domberg in ausgesprochen mieser Laune. Aber das war schon um die Mittagszeit, nachdem Clingenstain mit dem Goldschmied gesprochen hatte ...«

      Bei dem Goldschmied handelte es sich um keinen anderen als Burckhart Casendorpe, den Oldermann der Kanutigilde, wie Melchior nun hörte. Gestern waren überhaupt recht viele Leute bei Clingenstain gewesen. Der Ordensgebietiger hatte von Casendorpe ein Geschenk für den Ordensmeister in Marienburg kaufen wollen. Die Goldschmiede auf Gotland seien miserabel und geizig, die Arbeiten der Revaler Meister dagegen rund um die Ostsee für ihre Güte bekannt. Schon vor seiner Ankunft hatte er mit Casendorpe wegen des Geschenks im Briefwechsel gestanden und hatte dem Goldschmied letztendlich auch eine vergoldete Kette abgekauft. Die aber habe ein Heidengeld gekostet. Clingenstain hatte Jochen noch zum Schiff schicken und mehr Geld holen lassen müssen, weil sein Geldsack nichts mehr hergab.

      »Aus der Unterstadt waren gestern also drei Personen bei Clingenstain«, meinte Melchior nachdenklich. Fünf Tage lang kein Einziger und dann gleich mehrere nacheinander. Genau an dem Tag, an dem er umgebracht wird.

      »Wenn Tweffell hier war, dann hat auch bestimmt sein Diener Ludke nicht gefehlt, denn ohne ihn geht der alte Kaufmann nirgends hin, selbst in die Kirche und ins Rathaus nicht. Manchmal trägt Ludke seinen Herren sogar die Treppe hoch«, warf Dorn ein.

      »Das stimmt, seinen Diener hatte er dabei. Ein unglaublich starker und zäher Kerl, dieser Ludke, noch größer als unser Ordensmeister, der schon fast alle überragt. Wenn man dem ein Beil in die Hand gibt und ihn in die Schlacht schickt, kämpft er für drei, zweifellos. Warum einer wie er wohl Diener geworden ist? Wisst Ihr das?«

      Melchior musste zugeben, dass er es nicht wusste. Der Oldermann Tweffell und Ludke schienen unzertrennlich zu sein. Mit Ludke, einem Mann undeutscher Herkunft, hatte er selten die Gelegenheit gehabt, sich zu unterhalten. Der Diener war nicht sehr gesprächig und machte einen etwas einfältigen Eindruck, war aber stark wie Goliath. Melchior überlegte, ob er jemals von Tweffell gehört hatte, dass dieser den gotländischen Ordensgebietiger kannte. Ja, von einem Streit um Gotland und ein Schiff war ihm tatsächlich etwas zu Ohren gekommen, aber an Genaueres konnte er sich nicht erinnern. In dem Moment erweckte der Komtur wieder Melchiors Aufmerksamkeit: Er hatte gerade Prior Eckell erwähnt.

      »Baltazar Eckell, der Dominikanerprior?«, fragte Melchior überrascht.

      »Ja, verdammt, das habe ich doch gerade gesagt«, schnappte der Komtur. »Er kam, um Clingenstain Respekt zu zollen, und Clingenstain – als frommer und gottesfürchtiger