Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman. Nina Kayser-Darius

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Название Kurfürstenklinik Paket 1 – Arztroman
Автор произведения Nina Kayser-Darius
Жанр Языкознание
Серия Kurfürstenklinik Paket
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783740970673



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      Auch jetzt erleichterte es ihn, über Doris Willbrandt und den neuen Verwaltungsdirektor zu reden, denn er wußte, daß alles, was er sagte, bei Werner Roloff gut aufgehoben war.

      Als er geendet hatte, fuhr sich der andere mit beiden Händen durch die wilde graue Mähne, die so etwas wie sein Markenzeichen war. Außerdem war der Anästhesist sehr groß und überschlank – in jeder Hinsicht eine auffallende Erscheinung. Er richtete seine freundlichen braunen Augen auf Adrian und sagte milde: »Was ist los mit dir, Adrian? Du bist doch sonst ein so besonnener und ruhiger Mann! Was regt dich an Thomas Laufenberg so auf? Denn eigentlich regst du dich ja über ihn auf und nicht etwa darüber, daß die Patientin falsche Angaben gemacht hat, oder?«

      Daß er so schnell durchschaut worden war, versetzte Adrian in Verlegenheit. »Ja, wahrscheinlich hast du recht«, gab er zu. »Aber der Kerl geht mir einfach auf die Nerven.«

      Werner Roloff konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Wenn eine Frau im Spiel wäre, würde ich sagen, du bist eifersüchtig, aber das scheint nicht der Fall zu sein. Aber vielleicht ist es so, daß ihr euch ziemlich ähnlich seid, Tom Laufenberg und du.«

      »Tom?« fragte Adrian fassungslos und auch ein wenig gekränkt. »Ihr scheint euch ja bereits gut zu kennen.«

      »Stimmt, und ich finde ihn außerordentlich sympathisch. Genau wie dich.«

      Die Nachricht, daß sich der von ihm so sehr geschätzte Kollege Roloff mit dem neuen Verwaltungsdirektor angefreundet hatte, mußte Adrian erst einmal verdauen. Eine ganze Zeitlang sagte er kein Wort, und sein Kollege ließ ihn in Ruhe nachdenken. Um Werner Roloffs Lippen spielte noch immer ein kleines Lächeln.

      Schließlich fragte Adrian, wobei er sich bemühte, nicht durchklingen zu lassen, daß ihn die Worte des anderen getroffen hatten: »Und wieso sind wir uns ähnlich?«

      »Oh, ihr seid beide absolute Perfektionisten, geht in eurer Arbeit auf, sucht immer nach einem Weg, etwas noch besser zu machen. Fehler ertragt ihr schlecht, weder bei euch selbst noch bei anderen – das macht euch manchmal ein bißchen unduldsam. Aber auf eurem jeweiligen Gebiet seid ihr Spitzenklasse.«

      Jetzt war Adrian sprachlos. Das waren so viele Komplimente auf einmal gewesen, daß er darüber fast vergessen hatte, daß sie nicht nur ihm, sondern auch Thomas Laufenberg galten. »Du übertreibst aber«, entgegnete er schließlich matt.

      »Tue ich nicht, aber ich sehe schon, daß du noch eine Weile brauchst, bis du dich von deinen Vorurteilen gegenüber unserem Verwaltungsdirektor befreien kannst. Das macht auch nichts, er bleibt bestimmt lange genug hier, daß ich das noch erlebe. Und was die Geschichte mit deiner Patientin angeht: Das kommt doch öfter vor, wo ist das Problem? Geh zu ihr, sag ihr auf den Kopf zu, daß sie gelogen hat, und sieh zu, daß sie endlich die Wahrheit sagt. Vermutlich verbirgt sich ein privates Drama dahinter, das ist doch meistens so. Niemand lügt ohne Grund.«

      Das war wieder einmal typisch für Werner Roloff. Er ging immer vom Guten im Menschen aus, das machte ihn ja so liebenswert. Adrian entspannte sich endlich. »Danke, Werner. Es war gut, daß ich mir dir reden konnte. Und wahrscheinlich hast du mit allem recht, was du gesagt hast. Ich werde versuchen, es mir zu Herzen zu nehmen.«

      Der Anästhesist stand auf. »Mehr habe ich auch nicht zu hoffen gewagt, Adrian. Ich muß wieder los. Bis später!«

      »Bis später. Und nochmals vielen Dank.«

      »Das nächste Mal gibst du mir einen guten Rat, dann sind wir wieder quitt!«

      *

      Schwungvoll betrat Dr. Julia Martensen Doris Willbrandts Zimmer, um sie zum Computertomographen zu begleiten. Dann blieb sie stehen und sah erstaunt auf das leere Bett. »Nanu?« sagte sie laut und ging zurück auf den Flur, in der Erwartung, die Patientin dort zu finden. Doch das war ein Irrtum.

      Julias Erstaunen wuchs, denn bisher hatte Doris Willbrandt ihr Zimmer noch nicht ein einziges Mal verlassen. Es mußte ihr also deutlich bessergehen, wenn sie auf einmal größere Spaziergänge innerhalb der Klinik unternahm.

      »Haben Sie Frau Willbrandt gesehen?« fragte sie eine der vorübereilenden Schwestern. »Sie ist nicht in ihrem Zimmer.«

      Die Schwester blieb stehen, sah Julia an, betrat das Zimmer, sah das leere Bett und schüttelte den Kopf. Mit zwei schnellen Schritten ging sie zum Schrank und öffnete ihn. »Ihre Sachen sind weg«, stellte sie fest. »Viel war es ja nicht, aber alles, was sie hatte, ist weg. Die ist abgehauen, Frau Dr. Martensen!«

      Das konnte und wollte Julia nicht glauben, und so sah auch sie in den Schrank, aber die Schwester hatte recht: Er war leer. Rasch ging sie zu dem kleinen Nachtschränkchen, doch als sie die Schubladen aufzog, sagte die Schwester: »Da hatte sie sowieso nichts drin. Die Sachen, die sie anhatte, hingen im Schrank – mehr gab es nicht. Außer dem Schlüssel, den sie an einer Kette um den Hals trug.«

      »Aber sie kann doch nicht so einfach weggegangen sein!« sagte Julia fassungslos. »Wir wollten ein CT machen lassen heute, gestern hat sie endlich eingewilligt. Sie hat sich nämlich zuerst geweigert, weil sie Angst vor der Untersuchung hatte.«

      »Sie war sowieso etwas komisch«, stellte die Schwester fest. »Sie war nett, aber sie hat kaum geredet und wollte immer allein sein. Wenn ich ehrlich sein soll: Ich hab’ geahnt, daß sie sowas vorhat!« Sie verließ das Zimmer wieder, da draußen auf dem Gang nach ihr gerufen wurde, bevor Julia sie fragen konnte, was zu dieser Ahnung Anlaß gegeben hatte.

      Die Ärztin fühlte sich wie betäubt. Was hatte das zu bedeuten? Aber vielleicht irrte sich die Schwester auch. Es wurde immer viel geredet, und wenn etwas passierte, dann gab es stets jemanden, der behauptete, es vorher geahnt zu haben. Sie beschloß, sich auf die Suche nach der Patientin zu machen.

      Zwar setzte Julia ihre Suche noch eine ganze Weile fort, doch tief im Inneren wußte sie bereits, daß die Schwester recht gehabt hatte: Die Patientin hatte die Klinik verlassen, ohne jemandem etwas davon zu sagen.

      *

      »Du mußt keine Angst haben, Patrick«, sagte Dr. Adrian Winter freundlich zu dem kleinen Jungen, der weinend auf dem Schoß seiner Mutter saß. Er hatte seine Hand an einer Autotür eingeklemmt und schlimme Quetschungen davongetragen. Ganz blaß war er, und ihm war schlecht vor Schmerzen.

      »Wir spielen jetzt ein kleines Spiel«, sagte Adrian. »Und das geht so: Du zählst ganz langsam bis zehn, und wenn du bei zehn angekommen bist und deine Hand nicht mehr weh tut, dann haben wir beide gewonnen, und jeder von uns bekommt ein dickes Stück Schokolade. Wie findest du das?«

      Der Kleine weinte immer noch, aber in seinen Augen glomm Interesse auf. Er sah Adrian an, und dieser sprach rasch weiter. »Ich muß dich nur vorher ein kleines bißchen pieksen. Ungefähr so lange, wie es dauert, schnell von eins bis vier zu zählen. Sollen wir das mal versuchen?«

      Der Junge nickte, und allmählich versiegten die Tränen.

      »Wir zählen zusammen, Patrick – also los! Eins, zwei…«

      Als der Junge merkte, daß er eine Spritze bekommen hatte, wollte er erneut anfangen zu weinen, doch Adrian sagte: »Nun fang an, bis zehn zu zählen! Ich will nämlich schrecklich gern Schokolade essen, aber das geht ja nur, wenn wir beide gewonnen haben!«

      Gehorsam begann Patrick zu zählen, und Adrian lächelte der Mutter, die selbst ganz blaß vor Aufregung war, beruhigend zu. Das Schlimmste war überstanden. Gleich würden die Schmerzen nachlassen, und er konnte die Hand behandeln, ohne daß der Junge überhaupt etwas spüren würde. Er suchte nach der Schokolade, die er sich schon vorher in die Tasche seines Kittels gesteckt hatte.

      »Zehn!« sagte Patrick, und seine Stimme klang längst nicht mehr so kläglich wie zuvor.

      »Und? Spürst du noch was?« fragte Adrian.

      »Nein!« Patrick schüttelte heftig den Kopf. »Krieg’ ich jetzt Schokolade?«

      »Wir beide!« sagte Adrian, holte sie aus der Tasche und teilte sie auf, wobei der Junge ein großes Stück bekam, während er sich mit einem sehr kleinen begnügte.