Berufung. Timothy Keller

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Название Berufung
Автор произведения Timothy Keller
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783765571862



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nach dem Sündenfall in die Welt kam, als Teil des Fluches und Zerbruchs, sondern sie gehört zum Segen des Gartens Gottes. Arbeit ist genauso ein menschliches Grundbedürfnis wie Essen, Schönheit, Schlafen, Freundschaft, Beten oder Sexualität. Sie ist Medizin für unsere Seele, ja ihr tägliches Brot. Ohne sinnvolle Arbeit fühlen wir uns innerlich leer und unausgefüllt. Menschen, die aus gesundheitlichen oder anderen Gründen nicht arbeiten können, entdecken rasch, wie sehr sie die Arbeit brauchen, um sich körperlich, seelisch und geistlich wohlzufühlen.

      Zwei Freunde von uns, Jay und Barbara Belding, Unternehmer in einem Vorort von Philadelphia, erkannten dieses Grundbedürfnis unter lernbehinderten jungen Erwachsenen. Jay, der Sonderschullehrer war, stellte fest, dass die Berufsaussichten für die Schulabgänger schlecht waren. Die herkömmlichen Berufsausbildungs- und Beschäftigungsprogramme boten oft schlicht zu wenig Arbeit, mit entsprechend langen Beschäftigungspausen ohne Entlohnung. 1977 gründeten Jay und Barbara daher Associated Production Services, eine Firma, die diesen Menschen Qualitätsausbildungen und Beschäftigung bietet. Heute bildet sie 480 Personen aus, die an vier Standorten mit arbeitsintensiven Verpackungs- und Montagearbeiten für verschiedene Konsumgüter beschäftigt sind. Jay wollte Arbeitsmittel und Systeme zur Verfügung stellen, die die Qualität und Produktivität erhöhen und die helfen, eine Kultur des Erfolges für das Unternehmen und die Menschen, denen es dient, zu schaffen. Die Beldings sind dankbar, Mittel und Wege gefunden zu haben, das Grundbedürfnis ihrer Angestellten nach einem produktiven Leben zu stillen: „Unsere Leute wollen teilhaben an der Welt der Arbeit. Sie möchten ein positives Selbstbild haben und ihren Lebensunterhalt selbst verdienen.“ Ihre Angestellten können ihre von Gott gegebene Rolle als Arbeiter und Schöpfer endlich voll ausfüllen.

      Arbeit ist ein so fundamentaler Aspekt unseres Menschseins, dass sie eines der wenigen Dinge ist, die wir in hohen Dosierungen vertragen, ohne Schaden zu nehmen. Die Bibel sagt nicht, dass wir einen Tag arbeiten und dann sechs ruhen sollen, sondern genau umgekehrt! Freizeit und Muße sind hohe Güter, aber sie wollen in Maßen genossen werden. Wenn Sie Patienten in Pflegeheimen oder Krankenhäusern fragen, wie es ihnen geht, werden Sie oft hören, dass das, was sie am meisten vermissen, eine sinnvolle Tätigkeit ist, bei der sie sich nützlich machen können. Sie haben zu viel Muße und zu wenig Arbeit. Der Verlust der Arbeit stürzt uns in eine Krise, weil wir zum Arbeiten erschaffen sind. Diese Erkenntnis führt uns hinaus über die gängige Ansicht, dass man halt arbeitet, um leben zu können. Laut Bibel brauchen wir nicht nur das Geld, das wir mit unserer Arbeit verdienen, um zu leben; wir brauchen die Arbeit selber, um wirklich leben zu können und im vollsten Sinne Menschen zu sein.

      Die Gründe dafür werden wir in späteren Kapiteln genauer beleuchten, aber so viel schon jetzt: Arbeit ist eine der Möglichkeiten, wie wir uns für andere Menschen nützlich machen und nicht nur für uns selber leben. Sie ist auch eines der Mittel, uns selber zu entdecken, denn durch sie lernen wir unsere Fähigkeiten und Gaben kennen – ein zentraler Teil unserer Identität.30 Und so kann Dorothy Sayers schreiben: „Wie sieht das christliche Verständnis von Arbeit aus? … Arbeit [ist] nicht in erster Linie etwas …, was man tut, um zu leben, sondern etwas, wofür man lebt. Sie ist der volle Ausdruck der Fähigkeiten des Arbeiters oder sollte das zumindest sein … und das Medium, durch das er sich Gott darbringt.“31

      Die Freiheit unserer Arbeit

      Die Erkenntnis, dass uns die Arbeit in die Wiege gelegt ist und gleichsam zu unserer DNA gehört, hilft uns auch, zu verstehen, was „Freiheit“ im christlichen Sinne ist. Der moderne Mensch versteht Freiheit gerne als die Abwesenheit von jeglichen Einschränkungen. Aber denken Sie einmal an einen Fisch. Da ein Fisch Sauerstoff aus dem Wasser aufnimmt und nicht aus der Luft, ist er nur frei, solange er im Wasser ist. „Befreit“ man ihn aus dem Wasser und legt ihn ins Gras, damit er die große weite Welt kennenlernt, ist es mit seiner Freiheit, sich zu bewegen, ja zu leben, sehr schnell vorbei. Der Fisch wird nicht freier, sondern weniger frei, wenn er nicht der Realität seiner Natur entsprechend leben kann. Das Gleiche gilt für Vögel und Flugzeuge. Wenn sie die Gesetze der Aerodynamik verletzen, stürzen sie ab; folgen sie ihnen dagegen, können sie starten und fliegen. Wir finden dieses Phänomen in vielen Lebensbereichen: Freiheit ist nicht so sehr die Abwesenheit von Grenzen als vielmehr die Kunst, die richtigen Grenzen zu finden – die, die den Realitäten unseres eigenen Wesens und des Wesens der Welt entsprechen.32

      So sind die Gebote Gottes in der Bibel Werkzeuge der Befreiung, denn durch sie ruft Gott uns dazu auf, das zu sein, wozu er uns erschaffen hat. Ein Auto funktioniert bestens, wenn ich die Betriebsanleitung beachte und es seiner Bestimmung gemäß verwende und nach Herstellerangaben pflege. Wenn ich den Ölwechsel auslasse, wird mir deswegen niemand eine Geldstrafe aufbrummen oder mich ins Gefängnis werfen, aber ich werde irgendwann liegen bleiben, weil ich dem Wesen des Autos zuwidergehandelt habe. Ganz ähnlich funktioniert unser Leben nur dann, wenn wir es in Übereinstimmung mit der „Betriebsanleitung“ des Schöpfers führen – Gottes Geboten. Wenn ich diese Gebote missachte, beleidige ich nicht nur Gott, sondern ich verstoße gegen mein eigenes Wesen, wie Gott es gemeint hat. In Jesaja 48,17-18 sagt Gott dem ungehorsamen Israel: „Ich bin der Herr, euer Gott. Ich lehre euch, was gut für euch ist, und zeige euch den Weg, den ihr gehen sollt. Ach, hättet ihr doch meine Gebote befolgt! Dann wäre euer Friede wie ein Strom, der nie versiegt. Euer Glück würde sich ausbreiten wie die Meereswellen.“

      So ist es auch mit der Arbeit, die ja zu den Zehn Geboten dazugehört: „Sechs Tage sollst du deine Arbeit verrichten“ (2. Mose 20,9). Im Anfang erschuf Gott uns zur Arbeit, und jetzt gibt er uns ohne Wenn und Aber den Auftrag, auch diesen Teil unseres Geschöpfseins auszuleben. Dies ist kein lästiger Befehl, dies ist eine Einladung zur Freiheit.

      Die Grenzen der Arbeit

      Doch bedenken wir auch, dass Gott nach seiner Arbeit ruhte (1. Mose 2,2). Viele Menschen machen den Fehler, zu denken, dass Arbeit ein Fluch ist und man den Sinn im Leben folglich nur in anderen Dingen (Freizeit, Familie oder auch „Religion“) finden kann. Die Bibel straft diese Vorstellung Lügen. Aber sie bewahrt uns auch vor dem entgegengesetzten Fehler, nämlich der Vorstellung, dass die Arbeit das einzig Wichtige im Leben ist und der Rest ein notwendiges Übel, das man nur tut, um „die Batterien wieder aufzuladen“, damit man weiter arbeiten kann. Wie ist das mit Gott selber? Er brauchte keine Ruhepause, um neue Kraft zu bekommen, und doch ruhte er am siebten Tag (1. Mose 2,1-3). Wenn das so ist, dann können wir als nach seinem Bild erschaffene Wesen davon ausgehen, dass Ruhepausen und die Dinge, die man in ihnen tut, nicht nur als Mittel zur Pflege der Arbeitskraft, sondern in sich selber etwas Gutes sind. Arbeit ist nicht alles im Leben. Ohne Arbeit kein sinnvolles Leben – aber Arbeit ist nicht der große Sinn meines Lebens. Wo wir irgendeine Arbeit (und sei es die in der Kirche!) zum Sinn unseres Lebens machen, basteln wir uns einen Götzen, der Gott Konkurrenz macht. Meine Beziehung mit Gott ist das wichtigste Fundament meines Lebens und der Garant dafür, dass all die anderen Dinge – Arbeit, Freundschaft, Familie, Freizeit und Vergnügen – nicht so wichtig werden, dass wir von ihnen abhängig und sie damit pervertiert werden.

      Josef Pieper, ein katholischer Philosoph des 20. Jahrhunderts, schrieb 1947 eine berühmt gewordene Abhandlung über „Muße und Kult“. Pieper führt aus, dass Muße nicht einfach die Abwesenheit von Arbeit ist, sondern eine innere Einstellung, die uns in den Stand setzt, die Dinge so zu genießen und zu betrachten, wie sie in sich selber sind, ohne auf ihre Nützlichkeit zu schielen. Das typische Workaholic-Denken unserer westlichen Kultur neigt dazu, alles durch die Brille der Effizienz, der Verwertbarkeit und der Geschwindigkeit zu betrachten. Aber der Mensch muss auch fähig sein, die ganz einfachen Dinge des Lebens zu genießen, einschließlich derer, die nicht „nützlich“, sondern „nur“ schön sind. Interessanterweise sieht der oft als Griesgram verschriene Reformator Calvin dies genauso. In seiner Institutio (Unterricht in der christlichen Religion) warnt er davor, die Dinge nur nach ihrem Gebrauchswert zu beurteilen:

       Wenn wir nun also bedenken, zu welchem Zweck er [Gott] die Nahrungsmittel geschaffen hat, so werden wir finden, dass er damit nicht bloß für unsere Notdurft sorgen wollte, sondern auch für unser Ergötzen und unsere Freude! So hatte er bei unseren Kleidern außer der Notdurft auch anmutiges Aussehen und Anständigkeit