Inquietudo. Alexander Suckel

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Название Inquietudo
Автор произведения Alexander Suckel
Жанр Зарубежная классика
Серия
Издательство Зарубежная классика
Год выпуска 0
isbn 9783954629336



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      ALEXANDER SUCKEL

      INQUIETUDO

      Roman

      mitteldeutscher verlag

      INHALT

       Cover

       Titel

       Zum Buch

       Zitat

       I

       II

       III

       IV

       V

       VI

       VII

       VIII

       IX

       Quellen

       Der Autor

       Impressum

      Alle Personen dieses Buches haben wirklich gelebt. Jedes Wort darin ist so oder so ähnlich gesagt worden. Ich habe nichts erfunden. Manche Wörter sind geborgt oder übermalt. Allerdings wird gelogen, dass die Balken sich biegen. Und die Stadt Lissabon, wie sie hier beschrieben wird, sie existiert nicht wirklich. Oder doch? Und wenn, dann nur in der Erinnerung und Vorstellung des Autors. Also doch eher nicht.

      Nun ja, Lissabon, Lisboa, dein Wesen, kein Meer ohne Schiff. Was ist das? Zwei Verse, ich weiß nicht, von wem. Jetzt verstehe ich nicht. Obwohl Lissabon viel hat, so doch nicht alles, aber mancher glaubt, in Lissabon das zu finden, was er braucht oder wünscht.

       José Saramago

      I

      Tief ist der Fall in die Nacht, und Nacht ist das Wort für etwas, was wir meinen mit einer anderen Art von Schlaflosigkeit, Nacht ist die Erinnerung an das Durchwachen, und tief ist der Fall in diese Nacht.

      Kruses Großvater war ein lausiger Klavierspieler. Damals nach dem Krieg, in Berlin. In kleinen muffigen Bars hat er gespielt, meist allein, manchmal mit einem Bassisten und einem Schlagzeuger; Schlagzeuger hießen damals noch Trommler. Besonders schön hat es nie geklungen, sagte der Trommler. Später waren sie bei einer großen Versicherung angestellt, der Großvater und der Trommler. Das Klavier verstaubte und verlor im Laufe der Jahre den letzten Rest von Intonation. Nachdem es mit Großvater zu Ende gegangen war, beschloss der Familienrat, einen Klavierstimmer ins Haus zu holen, der das Instrument untersuchte und in den alten Zustand versetzte. Das Klavier stellte man in Kruses Zimmer auf, und ihm als dem jüngsten der Enkelkinder wurde Unterricht verordnet. Er ging einmal in der Woche zu einer Frau in der Nachbarschaft, die auf den ersten Blick hin von angenehm großmütterlicher Art zu sein schien. Doch hinter der Fassade von Gutmütigkeit und Geduld, von Liebe und Wohlgeruch verbarg sich ein sadistisches, kinderloses und daher wohl auch kinderhassendes Wesen. Sie quälte ihn mit subtilen Foltereinheiten, zunächst mit Hanon und Czerny, den Verfassern stupider Fingerübungen, später mit groben Streckbänken in Form von Dussek- und Clementi-Sonatinen, Tonleiter-Martyrien und Fingersatz-Strafexerzitien. Die höchste Stufe der Gemeinheit war erreicht, wenn sie dem Kind, das er damals war, Selbstverfasstes in pingelig-akkurater Notenschrift vorsetzte; unglaublichen Müll mit Dezimgriffen in der linken und Trillern zwischen viertem und fünftem Finger der rechten Hand. Wo man doch spätestens seit Robert Schumann weiß, dass vierter und fünfter Finger an einem Nervenstrang hängen und kraftvolle Bewegungen wie Verzierungen und Triller nur unter äußersten Qualen zu vollführen sind. An das Aussehen der Tastenzuchtmeisterin erinnerte er sich nur vage. Besonders deutlich aber hatte er noch diesen riesigen Dutt vor Augen, an welchem er sie damals gerne aufgehängt hätte.

      Jahre später, als Kruse sich langsam entscheiden musste, welcher Art Tätigkeit er denn fürderhin nachgehen wollte – die Zeit, in welcher man entscheidet, ob man einen Beruf erlernt, eines dieser vielen sinnlosen Studien aufnimmt, oder was auch immer – fiel ihm nichts recht Passendes für sich ein. Kurzum: Zum Malen fehlte ihm das Talent, zum Handwerk die Geschicklichkeit, zur Naturwissenschaft die Neigung und zu allem anderen der Fleiß. Also besann er sich auf das, was er als Einziges gelernt hatte im Leben und beschloss, sich als Klavierspieler durchzuschlagen, allen traumatischen Kindheitserinnerungen zum Trotz. Er spielte in genau jenen kleinen Bars wie der Großvater. Das Inventar mochte sich verändert haben, die Getränkekarte war sicher um einige exotische Abmischungen erweitert worden, ansonsten herrschte noch dieselbe Atmosphäre wie vor Jahrzehnten, die gleiche Mischung aus Tabaksqualm und schlechtem, dickem Parfüm, aus menschlichen Ausdünstungen und scharfem Fusel. Die Zeiten sind nicht gut für einen Klavierspieler. Man lernt sehr schnell, sein Publikum zu verachten. Weil einem niemand zuhört. Weil niemand einen Boogie von einem Bebop unterscheiden kann. Weil es eigentlich egal ist, ob man Time to Remember oder die Warschawjanka spielt.

      ***

      In den Pyrenäen kam Julia die Zeit zwischen August und Winter vor wie ein langsam vor sich hin dämmernder Dorfteich: Auf eine seltene Weise schön, wenngleich langweilig. Anfangs träumte sie manchmal und schreckte im Schlaf hoch. Später nicht mehr. Der Schäfer, bei dem sie wohnte, ein schlichter Bursche von vielleicht dreißig Jahren, hatte ein halbverfallenes Gehöft, wie sie in den Bergen zu Hunderten herumstehen, hergerichtet. Er wies ihr eine kleine Kammer zu. Mehr benötigte sie nicht. Sie reparierte eine Wasserleitung und sprach mit den Hunden. Mit dem Schäfer sprach sie nicht. Oder er nicht mit ihr. Einmal, nachts, im November hatte er sich ihr genähert. Sie wies ihn ab. Dann sprach er doch mit ihr; sagte, sie hätte jetzt zu gehen, die Schafe müssten ins Tal, ins Winterquartier. Am Morgen packte sie ihren Rucksack und ging. Sie verabschiedete sich von den Hunden und wanderte zwei Tage bergab, bis ein Auto sie auf der Landstraße mitnahm und in Perpignan absetzte. Von dort fuhr sie mit dem Zug über Barcelona nach Madrid, ohne recht zu wissen warum.

      Fast einen Monat lebte sie bei einem älteren Mann. Tagsüber vegetierte er in einem abgedunkelten Raum und starrte auf die Ölbilder an der Wand. Er schien sehr reich zu sein und ging kaum aus dem Haus. Manchmal gab er Julia Geld und schickt sie zum Bahnhof Atocha, um Heroin zu besorgen. Das rauchte er dann zu Hause und versank tagelang in sich, der Vergangenheit und seinem implodierenden Wahnsinn. Von dem Geld, das übrigblieb, kaufte sie etwas zu essen. Ansonsten klaute sie auf der Straße, was sie brauchte. Es war nicht viel. Kennengelernt hatte sie den alten Mann im Prado. Dort ging sie häufiger hin, mit einer Dauerkarte, die sie einem Studenten gestohlen hat, der sie in ein blödes Gespräch über Kunst verwickeln wollte. Meist sah sie sich die Schwarze Serie an. Ihr gefiel die Düsternis der Goya-Bilder. Aber eigentlich ging sie in den Prado, weil dort zuverlässig geheizt wurde.

      Gestern Abend kam sie aus der Stadt zum Haus des alten Mannes, läutete an der Klingel ohne Namensschild. Niemand öffnete, nur ihr Rucksack lag draußen vor der Tür.