So weit wie möglich weg von hier. Hannah Miska

Читать онлайн.
Название So weit wie möglich weg von hier
Автор произведения Hannah Miska
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783954624324



Скачать книгу

Besuch staatlicher Schulen ausgeschlossen, Kulturstätten, öffentliche Plätze, Badeanstalten konnten gesperrt werden, der Zugang zu Bibliotheken wurde verboten, der Führerschein von Staatsbürgern eingezogen. Die antijüdische Wirtschaftskampagne gipfelte in den von der NSDAP organisierten Pogromen am 9. und 10. November 1938, in deren Verlauf Tausende von jüdischen Geschäften, Wohnungen und Friedhöfen verwüstet, Hunderte von Synagogen in Brand gesteckt, etwa einhundert Menschen getötet und 30.000 jüdische Männer in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verbracht wurden. Am 12. November wurde die Einstellung sämtlicher jüdischer Geschäftstätigkeit verordnet, die „Arisierung“ der noch verbliebenen jüdischen Betriebe begann: Alle im Reich lebenden Juden wurden gezwungen, ihre Unternehmen zu verkaufen. Jüdischer Grundbesitz, Aktien, Juwelen und Kunstwerke mussten veräußert werden. Arbeitslose Juden wurden zu Zwangsarbeit verpflichtet, Juden durften „entmietet“ und in sogenannten „Judenhäusern“ untergebracht werden.

      Ab 1. September 1941 wurde im Großdeutschen Reich – also dem „Altreich“, der „Ostmark“, dem Sudetenland, Böhmen, dem Memelgebiet, Danzig und Westpreußen, Schlesien, Elsass-Lothringen und Deutsch-Belgien – die Pflicht für alle Juden ab dem sechsten Lebensjahr eingeführt, einen gelben Judenstern sichtbar an der Kleidung zu tragen. Ab Oktober war Juden die Auswanderung aus dem Deutschen Reich verboten. Das war genau der Zeitpunkt, an dem die Deportationen von deutschen, österreichischen und tschechischen Juden begannen. Die Transporte gingen zunächst von Wien, Prag, Berlin und Frankfurt, später von Breslau, Hamburg, Köln, Düsseldorf, Dortmund, München, Stuttgart, Nürnberg, Hannover und Dresden ab. Sie führten in die Ghettos von Łódź, Minsk, Kaunas und Riga in den von den Deutschen besetzten Gebieten in Polen und in der Sowjetunion. Massenermordungen von Juden in den Ostgebieten waren zu dieser Zeit bereits in vollem Gange. Bis zum Januar 1942 wurden knapp 50.000 Juden aus dem Deutschen Reich deportiert, Tausende wurden sofort nach der Ankunft erschossen. Bis zum Ende des Krieges wurden weitere 123.000 deutsche Juden deportiert. Etwa 315.000 deutschen Juden gelang die Ausreise oder die Flucht, zwischen 10.000 und 15.000 gingen in die Illegalität. Schätzungen zufolge überlebten 6.000 Juden in den Lagern, und 5.000 im Untergrund.

      Im November 1941 ließ Reinhard Heydrich in seiner Eigenschaft als Stellvertretender Reichsprotektor von Böhmen und Mähren die etwa 70 Kilometer nordöstlich von Prag gelegene Festung Theresienstadt – auf Tschechisch: Terezin – zu einem Konzentrationslager umfunktionieren. Die festungsartige Anlage mit Gefängnisanlagen, Baracken und hohen Schutzwällen schien ideal für die Zwecke der Nazis: Sie siedelten die dort wohnenden tschechischen Einwohner um und richteten – zunächst für die 88.000 tschechischen Juden aus Böhmen und Mähren – ein Sammel- und Durchgangslager ein. Die Deportationen der tschechischen Frauen, Männer und Kinder nach Theresienstadt begannen noch im November. Bereits zwei Monate später erfolgte der erste Weitertransport der Häftlinge in den Osten.

      Im Rahmen der „Endlösung der Judenfrage“ auf der Wannsee-Konferenz im Januar 1942 erklärte der Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes Reinhard Heydrich, dass unter der Federführung der SS nunmehr die Deportationen aller europäischen Juden nach Osteuropa stattfinden würden: Man rechnete mit elf Millionen. Um „die vielen Interventionen“ auszuschalten, so laut Protokoll, sollten alle Juden über 65, schwerkriegsbeschädigte Juden und Juden mit Kriegsauszeichnungen aus dem ersten Weltkrieg nicht „evakuiert“, sondern in das „Altersghetto“ Theresienstadt „überstellt“ werden.

      Im Sommer 1942 begannen die Transporte der deutschen Juden nach Theresienstadt – unter ihnen auch viele einstige Prominente aus Wirtschaft, Politik und Kultur. Noch vor der Deportation wurden die Juden bedrängt, sogenannte „Heimeinkaufsverträge“ abzuschließen, in denen ihnen eine lebenslange kostenfreie Unterbringung, Verpflegung und Krankenversorgung in einem Altersheim zugesichert wurde: ein letzter infamer Betrug an den Juden, durch den sich die Nazis auch noch deren restliches Vermögen einverleibten.

      Weil das Lager Theresienstadt unter jüdische Selbstverwaltung gestellt wurde und sich die Inhaftierten relativ frei bewegen konnten, wurde Theresienstadt oft auch als Ghetto bezeichnet. Die Lebensbedingungen unterschieden sich jedoch nicht wesentlich von denen in einem Konzentrationslager. Statt eines altersgerechten Domizils fanden die Ankömmlinge überfüllte, verlauste und verwanzte Unterkünfte mit katastrophalen sanitären Anlagen vor. Die Essensrationen waren völlig unzureichend. Diejenigen, die noch arbeitsfähig waren, wurden zu schwerer Zwangsarbeit eingeteilt. Der von der SS installierte Ältestenrat beschloss, Kindern und Arbeitenden größere Essensrationen als Alten und Kranken zu geben. In der Folge verhungerten die alten und nicht arbeitsfähigen Häftlinge – das waren im Wesentlichen die deutschen und österreichischen Juden. Krankheiten und Seuchen taten ihr Übriges. Allein im Jahr 1942 starben knapp 16.000 Menschen – die Hälfte der dort lebenden Juden. Aufgrund der hohen Sterbeziffer war die SS gezwungen, ein Krematorium zu bauen.

      Während ein steter Strom von neuen Häftlingen nach Theresienstadt kam, gingen permanent Transporte mit Juden in den Osten ab: in die Ghettos von Warschau, Łódź, Riga und Bialystok oder direkt in die Vernichtungslager von Auschwitz, Majdanek und Treblinka.

      Trotz der miserablen Lebensbedingungen und der ständigen Angst vor dem nächsten Transport, trotz – oder vielleicht auch wegen – aller Hoffnungslosigkeit entfaltete sich ein reges kulturelles Leben im Ghetto: Lehrer unterrichteten Kinder; Wissenschaftler, Philosophen und Soziologen hielten Vorträge; Schriftsteller gaben Lesungen; Schauspieler organisierten Theater- und Kabarettabende; Musiker gaben Konzerte. Opern wurden inszeniert, eine Kinderoper wurde komponiert und mehr als 50-mal aufgeführt. Die Aufführungen wurden trotz widrigster Umstände geprobt und gespielt: Immer wieder wurden mitspielende Künstler deportiert und mussten durch neue ersetzt werden.

      Nachdem im Oktober 1943 ein Transport mit dänischen Juden nach Theresienstadt gekommen war und die dänische Regierung daraufhin Druck auf die deutsche Regierung machte, beschlossen die Nazis, einer Besichtigung des Lagers durch eine Kommission des Internationalen Roten Kreuzes zuzustimmen. Natürlich beabsichtigten sie, die Kommission gründlich zu täuschen und putzten Theresienstadt zu einem Musterghetto heraus: Fassaden wurden gestrichen, Läden hergerichtet mit gefüllten Schaufenstern, ein Café und ein Kindergarten wurden eröffnet, ein Musikpavillon wurde errichtet, Bänke wurden aufgestellt und Blumen gepflanzt, und sogar Geld wurde gedruckt. Um die Häftlingsdichte im überfüllten Lager zudezimieren, gingen im Vorfeld des Besuchs weitere Transporte nach Auschwitz ab.

      Die Vertreter des Roten Kreuzes kamen am 23. Juni 1944. Sie waren beeindruckt, sahen sich die Kinderoper „Brundibár“ von dem tschechisch-deutschen Komponisten Hans Krása an und schrieben einen ausgesprochen positiven Abschlussbericht. Um nun auch die gesamte Weltöffentlichkeit zu täuschen, ließen die Nazis nach dem Besuch des Roten Kreuzes einen Propagandafilm in Theresienstadt drehen – von dem Häftling Kurt Gerron, einem namhaften deutsch-jüdischen Schauspieler, bekannt aus Filmen wie „Der blaue Engel“ oder „Die Drei von der Tankstelle“. Nach Beendigung des Films wurde Gerron nach Auschwitz deportiert – ebenso wie Hans Krása und andere namhafte Künstler und Prominente.

      Im letzten Kriegsmonat wurden noch etwa 15.000 Häftlinge aus aufgelösten Konzentrationslagern nach Theresienstadt transportiert – aus Auschwitz, Bergen-Belsen, Buchenwald. Sie kamen völlig entkräftet und ausgemergelt an, viele lagen bereits tot in den Viehwaggons. Die Neuzugänge schleppten Typhus ein. Daran starben – kurz vor der Befreiung – noch viele Menschen im Lager.

      Bis zum Ende des Krieges wurden etwa 140.000 Menschen nach Theresienstadt deportiert – 75.000 Tschechen, 42.000 Deutsche, 15.000 Österreicher, 5.000 Niederländer, 1.000 Polen, 1.150 Ungarn und 500 Dänen. 35.000 von ihnen starben in Theresienstadt, 88.000 wurden deportiert, 19.000 waren bei der Befreiung des Lagers am Leben. Nur wenige der 15.000 Kinder überlebten – über 90 Prozent von ihnen endeten in den Vernichtungslagern. Von den deportierten Häftlingen überlebten etwa 3.000.

      Am 5. Mai übergaben die Nazis Theresienstadt an das Rote Kreuz, am 8. Mai befreite die Rote Armee das Lager. Der letzte Häftling verließ Theresienstadt am 17. August 1945.

       Irma (Irmgard) Hanner

      Die Stimme am Telefon