1177 v. Chr.. Eric H. Cline

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Название 1177 v. Chr.
Автор произведения Eric H. Cline
Жанр История
Серия
Издательство История
Год выпуска 0
isbn 9783806238389



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und andere Gelehrte vermuteten zunächst, dass die feindlichen Schiffe zurückgekehrt waren und die Stadt überfallen hatten, bevor das Hilfeersuchen auf den Weg gebracht werden konnte. So lautet die Geschichte, die die Geschichtsbücher erzählen und die einer ganzen Studentengeneration aufgetischt wurde. Dabei hat man inzwischen herausgefunden, dass die Tafel nicht in einem Brennofen lag und dass es sich (wie wir später sehen werden) nur um eine Kopie des Briefes handelt; einiges spricht dafür, dass das Original tatsächlich nach Zypern geschickt wurde.

      Früher gab es in der Forschung die Tendenz, alle solche zerstörerischen Überfälle in jener Epoche den Seevölkern zuzuschreiben.26 Doch ihnen die komplette Schuld für das Ende der Bronzezeit in der Ägäis und im östlichen Mittelmeerraum zugeben, wäre sicherlich vermessen; so viel Macht werden sie kaum gehabt haben. Wir haben aber ohnehin keine eindeutigen Beweise für ihr Wirken, abgesehen von den ägyptischen Texten und Inschriften, die jedoch einen widersprüchlichen Eindruck hinterlassen. Fielen die Seevölker als organisierte Armee ins östliche Mittelmeer ein, im Sinne eines der besser organisierten Kreuzzüge im Mittelalter, die zum Ziel hatten, das Heilige Land zu erobern? Handelte es sich um eine eher locker bzw. schlecht organisierte Bande von Plünderern wie die späteren Wikinger? Oder waren sie Flüchtlinge, die vor einer Naturkatastrophe flohen und neue Orte zum Besiedeln suchten? Soviel wir wissen, könnte die Wahrheit irgendwo dazwischen liegen – vielleicht war es eine Kombination aller drei oben genannten Aspekte, vielleicht traf aber auch keiner davon zu.

      Immerhin: In den letzten Jahrzehnten ist eine Fülle neuer Daten aufgetaucht, die man hier mit berücksichtigen muss.27 So sind wir uns heute durchaus nicht mehr so sicher, dass alle Orte, an denen sich Spuren der Zerstörung fanden, von den Seevölkern heimgesucht wurden. Archäologische Befunde verraten uns zuverlässig, dass eine Stätte zerstört wurde, aber nicht immer wovon oder von wem. Darüber hinaus wurden nicht alle diese Stätten zur selben Zeit zerstört, viele nicht einmal im selben Jahrzehnt. Wie wir sehen werden, erstreckte sich der kumulative Untergang über mehrere Jahrzehnte, vielleicht sogar über ein ganzes Jahrhundert.

      Während wir also noch immer nicht genau die Ursache (oder alle Ursachen) dafür kennen, weshalb die Welt der Bronzezeit in Griechenland, Ägypten und dem Nahen Osten zusammenbrach, weist die aktuelle Forschungslage doch eher darauf hin, dass die Schuld nicht allein bei den Seevölkern zu suchen ist. Als wahrscheinlicher gilt, dass sie beim Zusammenbruch der Zivilisationen nicht nur Aggressoren waren, sondern zugleich auch selbst zu den Opfern gehörten.28 Eine Hypothese besagt, dass sie durch eine Verkettung unglücklicher Umstände und Ereignisse gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen und nach Osten auszuwandern, während sich die dortigen Königreiche und Imperien bereits im Niedergang befanden. Es ist durchaus möglich, dass sie allein deshalb in der Lage waren, diese Monarchien erfolgreich anzugreifen, eben weil sie bereits im Untergang begriffen und entsprechend geschwächt waren. Insofern könnte man den Seevölkern höchstens vorwerfen, dass sie besonders opportunistisch waren (wie es ein Forscher ausgedrückt hat). Ebenso könnte ihre Besiedlung des östlichen Mittelmeerraums weitaus gesitteter und mit weniger Blutvergießen einhergegangen sein, als man früher angenommen hat. Wir werden diese Möglichkeiten im Folgenden noch näher betrachten.

      Jahrzehntelang waren die Seevölker für die Wissenschaft ein willkommener Sündenbock für eine Situation, die weit komplexer war, als man annahm, und für die sie letztlich gar nicht so viel konnten. Jetzt scheint sich das Blatt zu wenden: Mehrere Wissenschaftler haben kürzlich darauf hingewiesen, dass die »Geschichte« der katastrophalen Welle von mutwilliger Zerstörung und/oder Migration, die die Seevölker angeblich über das östliche Mittelmeer brachten, von Gelehrten wie Gaston Maspero, dem berühmten französischen Ägyptologen, in den 1860er und 70er Jahren in die Welt gesetzt wurde und sich bis 1901 in den Köpfen festgesetzt hatte. Dennoch war es niemals mehr als eine bloße Theorie auf Basis epigraphischer Zeugnisse, und sie entstand lange, bevor die zerstörten Stätten tatsächlich ausgegraben wurden. Dabei waren sich selbst die Forscher, die Masperos Annahmen folgten, uneins darüber, welche Richtung die Seevölker einschlugen, nachdem sie von den Ägyptern besiegt worden waren – einige waren der Ansicht, sie seien erst anschließend ins westliche Mittelmeer gefahren und seien gar nicht von dort gekommen.29

      Heute herrscht allgemein die Überzeugung, dass die Seevölker (wie wir weiter unten sehen werden) wohl durchaus für einen Teil der Zerstörungen gegen Ende der späten Bronzezeit verantwortlich gewesen sein können. Aber es ist viel wahrscheinlicher, dass eine Verknüpfung natürlicher und menschengemachter Ereignisse – u.a. Klimawandel und Dürre, Erdbebenserien, Revolten und »Systemzusammenbrüche« – eine Kettenreaktion in Gang setzte, die zum Ende jener Epoche führte. Um wirklich zu verstehen, von welcher umwälzenden Bedeutung die Ereignisse um das Jahr 1177 v. Chr. waren, müssen wir zunächst rund 300 Jahre früher ansetzen.

      Tab. 1 Im Text erwähnte spätbronzezeitliche Könige Ägyptens und des alten Orients, chronologisch nach Land/Reich.

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      Tab. 2 Moderne Regionen und ihre (wahrscheinlichen) Namen in der späten Bronzezeit.

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       Kapitel eins

      Akt I Arma virumque: das 15. Jahrhundert v. Chr.

      Um das Jahr 1477 v. Chr. ordnete der ägyptische Pharao Thutmosis III. den Bau eines großen Palastes mit kunstvollen Fresken an, unweit des Mittelmeeres in der unterägyptischen Stadt Peru-nefer am Nildelta. Um diese Fresken zu malen, beauftragte man minoische Künstler aus dem fernen Kreta, die weit nach Westen über das »Große Grün« (so nannten die Ägypter das Mittelmeer) segeln mussten. Sie schufen Bilder, wie man sie noch nie zuvor in Ägypten gesehen hatte – seltsame Szenen mit Männern, die über Stiere springen, wurden mit Farbe auf den noch feuchten Putz gemalt, eine Technik, bei der die Farben zu einem integralen Bestandteil der Wand werden. Diese neuen, einzigartigen Fresken aus der Ägäis kamen so in Mode, dass man sie bald nicht nur in Ägypten, sondern auch in vielen anderen Palästen entlang der Küste fand – vom Nildelta bis zur Küste von Nordkanaan in Stätten wie Kabri in Israel, Alalach in der Türkei, Qatna in Syrien und Dab’a in Ägypten.1

      Peru-nefer, die Stadt im Delta, hat man als das heutige Tellel-Dab’a identifiziert. Ausgegraben wurde die Stätte ab 1966 vom österreichischen Archäologen Manfred Bietak und seinem Team. Die Stadt kannte man zuvor auch als Avaris, die Hauptstadt der Hyksos, der verhassten Invasoren, die ca. 1720 bis 1550 v. Chr. große Teile Ägyptens regierten. Aus Avaris wurde Peru-nefer, eine wichtige ägyptische Metropole, nachdem einer von Thutmosis’ Vorfahren, der Pharao Kamose, die Stadt um 1550 v. Chr. eingenommen hatte. Im Laufe von vier Jahrzehnten brachte Bietak eine einstmals wohlhabende Stadt ans Licht – unter mehreren Metern Sand und Schutt lagen großartige Fresken begraben, zu Beginn der 18. Dynastie (etwa 1450 v. Chr.) geschaffen von Minoern oder lokalen Handwerkern, die von diesen ausgebildet worden waren.2 Diese sind ein gutes Beispiel für die Internationalisierung der Welt des östlichen Mittelmeeres und der Ägäis, die nach der Vertreibung der Hyksos aus Ägypten zusammenzuwachsen begann.

      Die Hyksos waren zum ersten Mal um das Jahr 1720 v. Chr. in Ägypten eingefallen, ein Vierteljahrtausend vor der Zeit Thutmosis’ III. Sie blieben fast 200 Jahre lang dort, bis 1550 v. Chr. Als die Hyksos das Land überrannten, war Ägypten längst eine der etablierten Großmächte des alten Orients. Die Pyramiden von Gizeh waren zu diesem Zeitpunkt bereits fast 1000 Jahre alt; erbaut wurden sie während der 4. Dynastie, im Alten Reich. Der ägyptische Priester Manetho lebte in der viel späteren hellenistischen Epoche, im 3. Jahrhundert v. Chr. Er nannte die Hyksos »Hirtenkönige« – eine Fehlübersetzung des ägyptischen Begriffs hekau khasut, der eigentlich »Häuptlinge aus fremden Ländern« bedeutet. Aus »fremden Ländern« kamen die Hyksos tatsächlich, sie waren Semiten, die aus der Region Kanaan, also aus dem heutigen Israel, Libanon, Syrien und Jordanien, nach Ägypten