Im Rachen des Wolfes. Monique Levi-Strauss

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Название Im Rachen des Wolfes
Автор произведения Monique Levi-Strauss
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783806241440



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meine Mutter, welch ein Wunder diese erste Brille vollbrachte. Sie konnte endlich bei allen Spielen mitmachen, eine Existenz wie alle anderen führen. Das ganze Leben lang blieb ihr eine außerordentliche Fähigkeit, sich für sich allein beschäftigen zu können, indem sie sich Geschichten erzählte oder stundenlang las.

      Paul Rie, mein Großvater mütterlicherseits, hatte drei Brüder und eine Schwester, die alle in Wien geboren waren und denen er sehr nahestand. Wenn sie in Paris waren, wohnten sie bei meinen Großeltern. Meine Mutter liebte ihre Wiener Cousins, sie erzählte mir von den wunderbaren Ferien, die sie mit ihren Cousins in der Steiermark in Altaussee verbracht hatte. Onkel Oskar Rie hatte zwei Töchter: Margarethe, die den bekannten Psychoanalytiker Hermann Nunberg heiratete, und Marianne, ebenfalls Psychoanalytikerin, die den Kunsthistoriker Ernst Kris heiratete, der seinerseits auch Psychoanalytiker wurde. Tante Judith, Ditha genannt, heiratete Doktor Ludwig Rosenberg. Diese ganze kleine Welt stand mit Freud in Verbindung. Einige wurden berühmte Psychoanalytiker, die noch beim Meister selbst gelernt hatten.

      Nachdem sie ihr Baccalauréat in Paris bestanden hatte, schickten ihre Eltern meine Mutter zum Studium nach Boston, an das Simmons College, ein Mädchencollege, wo sie einen Bachelor, dann einen Master of Arts in Sozialwissenschaften erwarb. Während ihres Aufenthalts in Boston traf sie den Harvard-Studenten Jules Roman. Nach ihrer Rückkehr nach Frankreich im Jahr 1924 heirateten sie in Saint-Cloud.

      Flitterwochen in China

      Auf der Suche nach einer Anstellung willigte mein Vater ein, ein Jahr lang für die belgische Bahngesellschaft in Shanghai zu arbeiten. Ich glaube zu wissen, dass meine Eltern von dem Gedanken, nach Fernost zu gehen, begeistert waren. Mein Vater, weil ihm seine harte Kindheit und seine Jugend in den Schützengräben das Reisen unmöglich gemacht hatten; meine Mutter ihrerseits träumte davon, dem Beispiel ihrer besten Freundin Clara Malraux zu folgen, die gerade aus Indochina zurückkam.

      Von dieser langen Hochzeitsreise brachten sie einige Erinnerungen mit. Das Leben auf den Passagierdampfern, die Begegnungen, die Häfen. Die Entdeckung des Exotischen. Singapur, Peking und die Ausflüge in die Mongolei. Sie brachten auch rote Lackmöbel aus Canton mit, zwei Koffer aus Eukalyptusholz, Kleider und rote Stiefel aus russischem Leder mit kleinen Absätzen.

      Im Herbst 1925, auf dem Schiff zurück nach Frankreich, war meine Mutter mit mir schwanger. Es kommt vor, dass ich auf die Frage „Waren Sie mal in China?“ antworte: „Ja, kurz, denn ich wurde in Shanghai gezeugt (J’ai été conçue à Shanghai)“. Aber weil es sich nicht schickt, über den Ort zu reden, an dem die eigenen Eltern sich geliebt haben, um einen zu zeugen, sind meine Gesprächspartner schockiert. Oder sie verhören sich und verstehen, ich sei „Konsul in Shanghai“ gewesen. Das Missverständnis wird immer verworrener. Also erwähne ich diesen ersten Kontakt mit China nicht mehr.

      | | | | | | Kindheit in Passy

      Ich wurde am 5. März 1926 in Paris, im 16. Arrondissement, in einer Klinik in der Rue Alfred Dehodencq 5, geboren. Meine Eltern wohnten in einer Mietwohnung in Saint-Cloud, glaube ich. Im Jahr meiner Geburt kauften sie nur nach der Planzeichnung eine Wohnung in einem noch im Bau befindlichen Gebäude, in der Rue des Marronniers 2 in Paris, im 16. Arrondissement. Im Frühjahr 1927 bezogen sie diese Wohnung, die im Jahr 1956 meine eigene und die meines Mannes werden sollte, von wo ich jetzt diese Zeilen schreibe. Sieht man von den ersten drei Zahlen ab, die für Paris stehen, ist unsere Telefonnummer in den letzten 87 Jahren die gleiche geblieben.

      Der Beginn dieses Berichts lässt vermuten, mein Leben habe im Zeichen der Stabilität gestanden. Dem war keinesfalls so. Wir lebten nur sieben Jahre in der Rue des Marronniers. Mein Bruder Jacques kam am 9. Oktober 1927 zur Welt. Am 21. Mai hatte meine mit ihm schwangere Mutter vom Fenster ihres Zimmers aus, das nach Westen ging, die Spirit of Saint Louis ankommen sehen, Lindberghs Flugzeug, mit dem er am Vorabend von New York aufgebrochen war und als Erster den Atlantik ohne Zwischenstopp in 33 Stunden überquert hatte, er sollte in Le Bourget landen. Meine Mutter glaubte, dass der Geschmack, den mein Bruder später an allem fand, was mit dem Fliegen zu tun hatte, eng damit zusammenhing, dass er – wenn auch als Embryo – Zeuge einer derartigen Großtat gewesen war.

      Vom Balkon des fünften Stockwerks aus, der vor den Zimmern verläuft, die auf die Rue des Marronniers hinausgehen, sah man die Seine, die unterhalb der waldigen Hügel von Meudon einen großen Bogen beschrieb. Nur wenige Autos parkten in der Straße, die in beide Richtungen befahren werden durfte. Man hörte regelmäßig das Trotten der Pferde, die die Lieferwagen zogen; sie brachten uns Kohle für das Heizen des Küchenherds. Sie lieferten Holz, denn die Wohnungen hatten in der Zeit in einigen Zimmern noch offene Kamine. Das Holz und die Kohlen wurden im Keller gelagert und jeden Tag über die Hintertreppe hinauf in die Wohnungen gebracht. Vergessen wir nicht den Wagen des Eislieferanten, der uns jeden Morgen mit einer Stange Eis belieferte, die er auf seiner von einem groben Leinensack geschützten Schulter hinauftrug. In Europa gab es noch keine elektrischen Kühlschränke. Man kann sich heute nur schwer das Kommen und Gehen vorstellen, das auf den Hintertreppen zwischen Keller und Küche herrschte. Damals erfüllten diese Orte eine wichtige Funktion und wurden gut instand gehalten.

      Ein bürgerlicher Haushalt wie der meiner Eltern brauchte Dienstpersonal. Wir hatten eine Köchin und ein Zimmermädchen, die in den Dienstbotenzimmern schliefen. Eine englische Zugehfrau kümmerte sich um die Kinder. Sie ging mit ihnen jeden Tag im Jardin du Ranelagh spazieren, brachte sie in die Schule und zu den Klavierstunden, unterrichtete sie in Englisch. Sie wohnte im Viertel und ging abends zu sich nach Hause.

      Bei meinen Großeltern mütterlicherseits in Saint-Cloud

      Donnerstags und an den Wochenenden wurden die Kinder zu den Großeltern mütterlicherseits gebracht, die in einem Sandsteingebäude aus dem Anfang des Jahrhunderts, umgeben von einem ein Hektar großen Garten, wohnten, Rue du Mont-Valérien 40 in Saint-Cloud, genau oberhalb der Gare du Val-dʼOr. Von dem vierstöckigen Haus aus sah man den Nordwesten von Paris über die Rennbahn von Longchamp hinaus. Auf die Terrasse in der obersten Etage hatten meine Großeltern ein Fernrohr gestellt, durch das wir die Rennen genauso deutlich verfolgen konnten wie heutzutage im Fernsehen. Ebenso konnte man nachts die Mitteilungen lesen, die als leuchtende Zeichen auf dem Eiffelturm erschienen. Dieser Panoramablick auf die Pariser Innenstadt verzauberte meine frühe Kindheit. Ich liebte den Garten, der Früchte und Blumen im Überfluss hervorbrachte.

      Samstagmorgens holte mein Großvater mich nach der Arbeit in seinem Büro in der Rue Étienne Marcel mit seinem Panhard oder seinem Buick ab, der von einem tschechischen Chauffeur gefahren wurde. Ich könnte den Inhalt unserer Plaudereien nicht wiedergeben, aber ich sehe noch die in Silberpapier gewickelte Rolle vor mir, die mein Großvater aufriss, um mir eine weiße Pastille in Form eines Rettungsrings, life-saver genannt, zu geben, deren Wintergrün-Aroma mir im Gedächtnis geblieben ist. Kaum waren wir in Saint-Cloud angekommen, umfing Nanny mich mit ihrer Zärtlichkeit. Das Zimmer der Enkel befand sich im zweiten Stock neben dem von Onkel Georges, von Nanny, dem der Gäste und dem Wäschezimmer. Die Großeltern bewohnten den ersten Stock. Wir, die Kinder, besuchten sie morgens gegen zehn Uhr, während meine Großmutter ihr Frühstück im Bett einnahm und dabei dem Haushaltsvorsteher sowie dem Chauffeur ihre Instruktionen gab. Sie führten ein sorgenfreies Leben, empfingen viele Gäste, auf amerikanische Art, führten ein open house. Meine Großmutter, klein und dicklich, trieb keinen Sport, sie spielte Bridge. Mein Großvater war introvertierter und liebte Schach. Er brachte mir die Regeln bei und glaubte, dass ich mit meinen vier Jahren alt genug dafür war. Eines Tages griff ich mir mitten in einer Partie das Schachbrett und stürzte alle Figuren um. Er konnte seine Enttäuschung nicht verbergen, ich bedauerte meine Tat sofort, denn ich liebte ihn sehr. Bei seinem Tod im Jahr 1931 empfand ich das erste Mal Trauer.

      Nach dem Tod meines Großvaters nahm meine Großmutter ihre Mutter, die in den USA lebte, zu sich in dieses große Haus in Saint-Cloud. Meine Urgroßmutter, die schon erblindet war, kam gerne, denn sie sehnte sich danach, ihre Enkel und Urenkel näher kennenzulernen. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1938 lebte sie im ehemaligen Zimmer meines