Versehrte Seelen. Gabriele Keiser

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Название Versehrte Seelen
Автор произведения Gabriele Keiser
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783898019071



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schwere Tränensäcke hingen, fixierten sie.

      »Morgen«, murmelte Helena und zog schnell ihre Hand zurück.

      Argwöhnisch betrachtete sie das runde Gesicht ihres Chefs, seine Glatze mit dem graumelierten Haarkranz. Die Lesebrille baumelte an einem Band vor seiner nicht allzu schmalen Brust, der Bauch unter dem dezent gestreiften Hemd wölbte sich durch die gerade Haltung noch mehr nach vorn.

      Mit seiner gesamten Präsenz strahlte Kriminalkommissar Konrad Wieland eine ordentliche Portion Selbstbewusstsein aus und damit die Überzeugung, dass die eigenen Entscheidungen die richtigen sind. Er war einer, der, unangefochten von allen Widrigkeiten, die das Polizistenleben bereithielt, mit sich zufrieden war, einer, der gern in seiner Wirkungsstätte, dem Polizeipräsidium arbeitete, aus dem einfachen Grund, weil er hier etwas galt. Bereits bei ihrem ersten Gespräch hatte er mit unverhohlenem Stolz verlauten lassen, dass er in mehr als dreißig Dienstjahren beinahe alle seine Fälle gelöst habe. »Was ja nicht jeder von sich behaupten kann, nicht wahr?«

      »Haben Sie sich denn schon ein bisschen in unserem schönen Bonn eingelebt?«, fragte er jetzt.

      Helena musste an sich halten. Gegen bestimmte Sprüche war sie allergisch. Bereits zwei davon hatte ihr Chef innerhalb weniger Minuten geäußert. Insofern war ihre Antwort eher eine gemäßigte Verlegenheitsäußerung.

      »Nun ja«, antwortete sie gedehnt. »Gestern war ich auf dem Alten Friedhof.«

      Wieland lachte auf. »Die Toten lassen Sie wohl auch in Ihrer Freizeit nicht los, was? Aber stimmt schon, der Alte Friedhof ist wirklich sehenswert. Schillers Frau liegt da begraben, ­Beethovens Mutter und …«

      »Die Berühmtheiten interessieren mich nicht«, fiel sie ihm ins Wort. »Dort ist es grün und es gibt viel Schatten. Aber vor allem ist es ruhig.« Und man wird nicht behelligt vom Geschwätz seiner Mitmenschen, fügte sie im Stillen hinzu.

      In ihrer Wohnung war es am gestrigen Sonntag unerträglich heiß gewesen, und sie hatte sich zu träge gefühlt, irgendetwas zu unternehmen. Die ausladenden Baumkronen waren von ihrem Wohnzimmerfenster aus zu sehen. Das Areal wirkte ein wenig wie der Dorotheenstädter Friedhof in der Nähe ihrer ehemaligen Berliner Wohnung. In der Kapelle war es schön kühl gewesen. Dort hatte sie eine Weile gesessen und über Gott und die Welt nachgedacht. Und sich zum hundertsten Mal gefragt, ob die Entscheidung, Berlin zu verlassen, richtig war. Die Königswinterer Straße war nicht die Keithstraße. Und der Rhein war weder die Spree noch die Havel. Wahrhaftig nicht.

      »Klar. Berühmtheiten habt ihr in eurem Berlin genug. Ich kann mir gut vorstellen, dass Bonn dagegen ein bisschen mickrig wirkt. – Aber immerhin waren wir auch mal Hauptstadt. Wenn auch ein paar Nummern kleiner.« Er zwinkerte ihr zu und lachte lauthals.

      Sie atmete tief durch, widerstand dem Impuls, genervt mit den Augen zu rollen und wartete ab, bis sein Lachanfall vorbei war und er sich wieder beruhigt hatte. Sagte sich, dass dieser ältere Herr, der wahrscheinlich eine geduldige Frau zu Hause, nette Kinder und einen Stall voller Enkel hatte, eine vollkommen andere Sozialisation als sie selbst genossen hatte und folglich auch einen anderen Blick auf die Welt.

      Kurz dachte sie an eine seiner markanten Äußerungen bei ihrer ersten Begegnung: Wichtig ist Verständnis zeigen. Das gilt für Täter und Opfer gleichermaßen. Rumpoltern gibt’s bei uns nicht. Das können die im Fernsehen so machen meinetwegen. Aber im Umgang mit dem Verbrechen können wir zeigen, dass wir mehr sind als Polizisten. Nämlich Seelsorger oder Beichtvater, Sozialarbeiter oder auch Psychologe, je nachdem, was die Lage erfordert. Das ist ja gerade das Spannende an unserem Beruf.

      Hehre Worte.

      »Und wir zwei beide, wir werden es wohl jetzt eine Weile miteinander aushalten müssen.«

      Manchmal sind wir ganz schöne Quatschbacken, nicht wahr, Herr Kriminalkommissar?

      Helena Rosenberg aus Berlin. Bei der Nennung ihres Namens hatte er gestutzt. Nur ganz kurz. Aber sie hatte das kleine Zucken bemerkt, das er sofort überspielen wollte. Eine Reaktion, die sie nur allzu gut kannte. Sie hatte gehofft, dass nicht der übliche Kommentar folgen würde, wenn sie ihren Namen sagte. »Die schöne Helena. Und der Nachname – klingt irgendwie …«

      Nein, Konrad Wieland hatte sich jeglichen Kommentar verkniffen, dafür war sie ihm dankbar. Obwohl sie durchaus darauf vorbereitet gewesen war.

      Ja, mein Name klingt jüdisch. Und meine Vorfahren sind höchstwahrscheinlich Überlebende von Auschwitz. Aber in meiner Familie hat dies niemanden interessiert. Jedenfalls wurde nie darüber gesprochen. Ihr würde auch viel besser gefallen, sie sei ein Abkömmling von Julius und Ethel Rosenberg, die in New York auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet wurden. Unschuldig, wie sich danach herausstellte. Aber es gab keine Belege für irgendwelche verwandtschaftlichen Beziehungen.

      Ihr Chef kniff ein wenig die Augen zusammen. »So ganz klar ist mir allerdings immer noch nicht, warum Sie Berlin gegen Bonn ausgetauscht haben.«

      Vorsicht, Helena. Überleg gut, was du antwortest.

      »Ab und an sollte man seinen Horizont erweitern.« Sie lächelte gequält und hoffte gleichzeitig, dass dies nicht zu schnippisch geklungen hatte. Dieser Mann, von dem gleichzeitig etwas Väterliches und Überhebliches ausging, meinte es wahrscheinlich gut mit ihr, jedenfalls hatte er ihr dies bereits wortreich zu verstehen gegeben. Und sich gleich am Anfang alles durch forsches Auftreten zu verscherzen, war nicht besonders klug. Diesmal galt es in besonderem Maße, ihre manchmal etwas vorlaute Klappe im Zaum zu halten.

      Ralf hatte mal geäußert, dass sie das Aussehen eines Welpen hätte, den man behüten und vor der bösen Welt beschützen möchte, aber sobald sie den Mund aufmache, erinnere sie an einen kläffenden herrenlosen Straßenköter. Und sie solle sich dringend abgewöhnen, ständig mit dem Mittelfinger herumzufuchteln. Ralfs Worte hatten Gewicht und gaben ihr zu denken. Sie war in sich gegangen und hatte an ihrer Art zu kommunizieren und an ihrer Gestik gearbeitet. Die Arbeit dauerte an. Immerhin gelang es ihr jetzt besser, in gewissen Situationen den Mund zu halten, wo sie früher einfach losgeblökt hätte.

      »Den Horizont erweitern?« Wieland grinste. »Och nee. Geben Sie es ruhig zu: Sie denken doch sicher, Sie sind hier in der tiefsten Provinz gelandet.« Wieder zwinkerte er ihr zu. »Aber Sie werden sehen, auch die hat ihre Herausforderungen.« Mit diesen Worten legte er eine Pistole auf den Schreibtisch. »Passen Sie gut drauf auf.«

      Sie quittierte den Erhalt der Waffe, er verabschiedete sich. »Bis nachher.«

      Es war eine Walther P99. Sie nahm sie in die Hand. Strich über das schwarze Metall. Etwas ungewohnt fühlte sie sich an. Ihre Berliner Dienstwaffe war eine SIG Sauer P225 gewesen. Sie würde baldmöglichst zum Schießkino gehen müssen, um sich mit der Handhabung der neuen Waffe vertraut zu machen.

      Sie legte die Pistole zurück auf den Schreibtisch und sah sich in ihrem Büro um. Ein kleiner Raum, kaum zehn Quadratmeter, etwas größer als eine Gefängniszelle. Immerhin eine Einzelzelle. Überschaubar, funktionell, schmucklos. Die einzige Dekoration bestand bisher aus einem Monatskalender an der Wand mit Fotos von Berlin, den sie aufgehängt hatte. Ein bisschen alte Heimat in ihrer neuen Wirkungsstätte.

      Helena hatte auf einem eigenen Büro bestanden, die allzu große Nähe anderer Menschen machte sie nervös. Sie betrachtete die Dinge lieber aus der Distanz: Sachen, Fälle, Menschen. Mit dieser Haltung kam sie ganz gut klar, auch wenn sie öfter befremdliche Blicke trafen, wenn sie diese Einstellung laut äußerte.

      Sie fuhr den Computer hoch. Packte die wenigen Gegenstände aus, die sich in einem mitgebrachten Karton befanden und räumte sie ein. Den lachenden Buddha, der sie ein wenig an ihren neuen Chef erinnerte, stellte sie auf den Schreibtisch. Dabei streifte sie die Walther. Sie nahm die Pistole und legte sie in die untere verschließbare Schublade ihres Schreibtischs.

      Was beim Friseur der Kamm ist, ist beim Polizisten die Waffe. Diese Weisheit hatte einer ihrer Ausbilder gern mit glänzenden Augen von sich gegeben. Sie hatte nicht widersprochen, obwohl ihr eine entsprechende Antwort auf der Zunge lag. Das wunderte sie noch heute.

      This is my rifle, this is my gun, one is for killing,