Demokratie und Sozialismus und Freiheit. Frank Kell

Читать онлайн.
Название Demokratie und Sozialismus und Freiheit
Автор произведения Frank Kell
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783534401932



Скачать книгу

definiert. Dieser Wendepunkt trennt eine historische von einer bis in die Gegenwart reichende Lebenswelt in Ostdeutschland: das Erleben von relativer Eindeutigkeit und Stabilität in der spätsozialistischen Gesellschaft der „Konsensdiktatur“35 einerseits und die postsozialistische Erfahrung eines grundschürfenden Wandels der sozialen und kulturellen Verhältnisse andererseits.36 Die erinnerungsmäßige Konzentration auf den Systemwechsel in den 90er Jahren schiebt den Topos der Friedlichen Revolution in den Hintergrund, auch weil die „lange Geschichte der ‚Wende‘“37 von vielen Ostdeutschen selbst im Rückblick nur schwer mit dem Adjektiv „friedlich“ assoziiert werden kann. Gleichzeitig erlaubt der im Vergleich zur Revolution schwächere Bewegungsbegriff der Wende, den Systemwechsel in der Erinnerung durchlässiger für kulturelle Kontinuitätslinien zu gestalten. Während der Revolutionsbegriff zur kritischen Auseinandersetzung und Abgrenzung mit der vorrevolutionären Vergangenheit auffordert, hilft der Begriff der Wende, die Frage der eigenen Rolle in der „heilen Welt der Diktatur“38 nicht in den Kategorien von persönlicher Verstrickung und Verantwortung zu verhandeln. Der Bruch mit der DDR fällt im Sprechen über die Wende weniger stark aus, wie diese überhaupt vieles Diktatorische und Repressive verschleiert. Enttäuschte, womöglich überzogene „Wende-Erwartungen“39 – mögen sie früher oder später auch erfüllt worden sein – speisen bis heute eine vor allem in Ostdeutschland identitätsstiftende Gerechtigkeitsdebatte.

      Wende und Friedliche Revolution zeigen aber nur die zwei deutungsmächtigsten Perspektiven auf die Ereignisse von 1989/90 an. Einen dritten Standpunkt nehmen zahlreiche Akteure der DDR-Bürgerrechtsbewegung ein. Sie sahen und sehen bis heute ihr Denken und Handeln weder mit einem auf die bundesrepublikanischen Verhältnisse zielenden Revolutionsbegriff noch mit der von den alten Machthabern korrumpierten und einer vermeintlichen vox populi nach dem Mund redenden Wende adäquat beschrieben. Christa Wolf stellte bereits in ihrer Demonstrationsrede am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz fest: