Die Angst der Schweigenden. Nienke Jos

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Название Die Angst der Schweigenden
Автор произведения Nienke Jos
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839265642



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weiter.

      Nicht sehr entschlossen.

      Sie verlangsamte ihr Tempo, tastete sich vorsichtig heran. Der rote Samtanzug sah schwer und vollgesogen aus. Die schwarzen Stiefel ragten aus dem Schnee wie glänzende Steine.

      Es war unwürdig, den Weihnachtsmann mit dem Fuß anzustoßen, aber sie hatte keinen Stock, wollte den nassen Stoff nicht mit den Händen berühren.

      »Hallo?«, flüsterte sie.

      Sie schlurfte um den regungslosen Körper herum, kam sich schäbig vor, als sie sich weit über ihn beugte und ein schleimiger Pfropf aus ihrer Nase auf seine Schulter tropfte.

      Plötzlich gab der Mann ein stöhnendes Husten von sich. Marga erschrak. Sie trat hastig einen Schritt zurück, hektisch lief sie los, schaute sich um. Sie hatte Angst, der Weihnachtsmann würde hinter ihr herkommen, sie lautlos verfolgen, aber er lag dort.

      Wie tot.

      Es hatte erneut zu schneien begonnen. Harte kleine Flocken wirbelten in Margas Augen. Nirgendwo Fußspuren, die verrieten, aus welcher Richtung er gekommen war.

      Und wenn er Hilfe brauchte?

      Sie blieb stehen, horchte angespannt. Ein Geräusch. Ein leises Knistern. Es schlich sich heran, wurde lauter, zog sich wie ein peitschendes Gummiband an ihr vorbei zum Ufer des gefrorenen Sees. Auf das Knacken der brechenden Eisdecke folgte ein ungeheuerlicher Knall.

      Marga hielt die Luft an, konnte nicht glauben, dass sie das kalte Wasser überleben würde. Sie würde sterben. Genauso elend, wie der Weihnachtsmann sterben würde. Oder wie Kater Otto gestorben war. Oder das Katzenbaby.

      Weihnachten würde ausfallen.

      Für immer und ewig.

      6

      Groß. Eine große, dunkle Gestalt.

      Inna hastete zurück auf ihren Sitz, verriegelte die Türen. Sie keuchte angespannt. Da war niemand. Niemand, der sich hierher verirrt hatte. Die Gestalt existierte nur in ihrer Fantasie, emporgestiegen aus der Essenz ihrer Ängste, ihrer feinen Sinne.

      Ihr Auto wackelte. Der Sturm hatte an Stärke zugenommen, hob ihren Wagen an, ließ ihn fallen, klopfte an ihre Seitenscheibe. »Machen Sie auf!«, schrie er.

      Inna traute sich nicht, blieb erstarrt in ihrem eingeschneiten Auto sitzen, die Verbindung zur Außenwelt nahm mit jeder weiteren Schneeflocke ab.

      Es klopfte erneut an die Scheibe. Energischer. Lauter. Eher ein Hämmern. »Machen Sie auf!«, schrie der Sturm. »Bitte, machen Sie die Tür auf!«

      Inna hatte sich auf die Zunge gebissen. Sie schmeckte Blut.

      »Nicht wegfahren! Bitte, reden Sie mit mir!«

      Reden Sie mit mir.

      Reden.

      Sie dachte an Grunewald.

      »Kannst du dich überhaupt unterhalten, Inna? Kannst du? Mal hier und da ein wenig plaudern? Eine verdammte Konversation führen? Ist gut für die Geschäfte«, hatte er vor vielen Jahren lamentiert.

      »Ich arbeite. Das ist gut für die Geschäfte.«

      Grunewald hatte den Kopf geschüttelt. »Menschen können sehr nett sein. Man kann mit ihnen reden. Der gemeine Mensch …«

      »Ich bin …«

      »Du bist kein Mensch. Du bist Statikerin«, hatte Grunewald sie unterbrochen.

      »Ich …«

      »Versuch’s doch mal.«

      »Was denn versuchen?«, hatte Inna hilflos gefragt.

      »Unterhalten. Versuch, dich mit anderen Menschen zu unterhalten.«

      »Und worüber?«

      »Über dich. Über dein Leben. Über andere. Über das Leben anderer.«

      »Über das Leben? Über das Leben anderer?«

      »Über Hobbys, Lieblingsfarben, Musikgeschmack. Man fragt sich, wie es geht oder was man am Wochenende vorhat. Man erzählt sich Geschichten aus der Kindheit. So macht man das!«

      »Aus der Kindheit?« Inna hatte verständnislos die Augenbrauen hochgezogen.

      »Zum Beispiel.«

      »Was denn für eine Kindheit?«

      »Herrgott, Inna! Kindheit! Hattest du denn keine? Mit Fingerfarben malen, schwimmen gehen, Sandburgen bauen und von Mauern springen. Hat dir dein Vater nicht das Fahrradfahren beigebracht? Das nennt man Kindheit! Man spielt mit Steinen und malt Bilder, man spielt Verstecken, kriecht in Höhlen und …«

      In diesem Moment hatte Inna ihm ins Gesicht geschlagen.

      »Inna …«, hatte Grunewald entsetzt gestammelt und seine Wange gehalten. »Ich …«

      »Es gibt keine Höhle. Gibt es nicht.«

      Sie holte tief Luft, zögerte, drückte mit klammen Fingern den Knopf der Zentralverriegelung.

      Reden.

      Über das Wochenende. Über die Kindheit.

      Es dauerte einen Moment, dann wurde die Beifahrertür aufgerissen. Der Fremde schob sich mühsam auf den Sitz. Die Autotür fiel zu. Der Knall wirkte bedrohlich, endgültig.

      Kein Zurück mehr.

      Stille. Noch mehr Stille, nur der Sturm heulte in der Eiseskälte wie ein wildes Tier um sein Opfer. Inna hielt den Atem an.

      »Danke«, stöhnte der Mann. »Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

      Reden.

      Über das Leben. Über die Kindheit. Über das Wochenende.

      »Was machen Sie am Wochenende?«, fragte Inna steif.

      »Wie bitte?«

      Sie schüttelte den Kopf. »Hier? Was machen Sie hier?«

      »Ich war spazieren. Der Schneesturm hat mich überrascht.«

      »Haben Sie den Wetterbericht nicht gehört?«

      »Sie auch nicht«, spottete der Mann. »Wir könnten die Fußmatten unter die Räder legen.« Der Fremde machte eine bedeutungsvolle Pause. »Ehrlich gesagt …«

      »Schnee«, sagte Inna schnell. »Sehr viel Schnee.«

      Der Mann nickte. »Ich hatte überlegt zurückzulaufen, aber dann wäre ich drei Stunden unterwegs gewesen, wahrscheinlich länger. Der Sturm ist gewaltig, und es wird schon dunkel.« Er lachte nervös. »Ein Glück, dass Sie mir geöffnet haben.«

      Inna presste ihre kalten Hände um den Lenker. Ein Glück. Ein Glück, dass sie ihm geöffnet hatte. Oder?

      Der Mann lehnte sich zurück, verschränkte seine Arme, als könnte er damit seine Körperwärme speichern. Er schloss zufrieden seine Augen.

      »Gut«, begann Inna. »Wir schaufeln die Räder frei, wir machen das mit …« Sie fuchtelte mit ihren Händen Richtung Fußraum. »Wir machen das mit diesen Matten.«

      »Und dann?«

      »Und dann.«

      »Wir schaffen es nicht einmal vom Parkplatz, und das hier ist erst der Anfang. Der Sturm wird weiter zunehmen und es wird noch mehr Schnee fallen.«

      »Wir müssen es versuchen.«

      »Wir stecken hier fest. Da hilft nur abwarten.« Der Fremde öffnete seine Augen. »Seien Sie nicht albern.« Er streckte ihr seine Hand entgegen. »Geben Sie mir die Schlüssel zu Ihrer Fabrikhalle. Ich möchte nicht erfrieren.« Er räusperte sich. »Sie können ja im Auto bleiben.«

      Inna presste ihre Lippen aufeinander, ihren Blick auf die Mittelkonsole gerichtet. Der Mann langte blitzschnell nach dem Schlüsselbund und stürmte hinaus.

      Sie