Die Angst der Schweigenden. Nienke Jos

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Название Die Angst der Schweigenden
Автор произведения Nienke Jos
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839265642



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überlegte. »Erzählen Sie mir von Ihrer Kindheit. Sie sind Geschwister. Sie und Jenke. Und Ihr Vater heißt Henri. Sie sind in einer Burg aufgewachsen. Was ist mit Ihrer Mutter? Lebt Sie noch?«

      »Ich darf nicht über meine Mutter sprechen.«

      Igor rollte mit den Augen. »Dann erzählen Sie mir eben etwas über Ihre Kindheit, ohne dass Sie Ihre Mutter dabei erwähnen.«

      Inna nickte ernst. »Sich in einer Höhle verstecken. Ist das Kindheit?«

      *

      Sie sah das dicke Edchen. Edchen, die ihre Hände an der Schürze abwischte und sorgenvoll eine Dose Kekse aus dem Schrank zog. »Möchtet ihr noch heißen Kakao?«

      »Wir nehmen alles«, sagte Inna. »Alles. Oder, Jenke?«

      Jenke schnippte ungeduldig mit den Fingern. »Können wir jetzt los?«

      »Aber nur bis zu den Steinriesen«, warnte Edchen. »Ich komme sonst um vor Sorge.«

      »Wissen wir.« Jenke schnappte sich die Tasche mit dem Kakao und den Keksen.

      »Und es ist kalt. Und nass.« Edchen zeigte aus dem Fenster. »Seht ihr?«

      »Sind wir aus Zucker?«

      Edchen seufzte. »Nicht zum Felsenmeer!«

      »Hat Henri aber erlaubt«, erwiderte Jenke. Er griff nach Innas Hand und stürmte los. Aus der großen Küche über den langen dunklen Korridor.

      »Euer Vater wird trotzdem mit mir schimpfen, wenn ihr nass und verfroren zurückkehrt!«, rief Edchen hinterher.

      Sie rannten. Durch die nasse Kälte, durch den schweren Nebel. Jenke vorweg. Inna hatte Bauchschmerzen, aber das hatte sie immer. Vor Angst. Vor Angst, dass ihre Mutter wieder tagelang weg sein würde. Sie kannte keine einzige andere Mutter auf der Welt, die ganze Nächte lang fort war, ohne ein Wort darüber zu verlieren.

      »Ich kann nicht mehr!«, rief Inna und schnappte nach Luft.

      »Henri hat mir etwas gezeigt, weit hinten im Felsenmeer.« Jenkes Augen blitzten. »Eine Höhle. Komm!«, forderte Jenke sie auf, mit verengten Augen, um sie vor dem Nieselregen zu schützen.

      Sie erreichten den Wald, waren die Einzigen weit und breit. In den Pfützen schimmerten Millionen kleine Diamanten wie glänzende Perlen auf der Wasseroberfläche. Sie balancierten über bemooste Schienen. Rostige Venen, die in der Erde verschwanden und wieder auftauchten.

      »Hier entlang!«, rief Jenke.

      »Weiter will ich nicht.« Inna blieb stehen. »Komm zurück!«

      »Angsthase.« Er zog sie hinter sich her, vorbei an den Steinleichen, den drei Riesen. Die Felsenköpfe lauerten still. Bereit, wenn sie nur einen Schritt zu nahe kamen.

      Sie liefen, bis das Moos von der nassen Erde verschluckt wurde. Sie kletterten einen Abhang hinunter, stiegen über entwurzelte Bäume, immer tiefer in den Wald hinein. Inna war noch nie so weit von zu Hause fort gewesen. Sie schaute sich um. Keine Steinriesen mehr, keine Schienen. Stattdessen der graue Himmel, Regen, der die Sicht auf die Burg durch seine milchigen Vorhänge verschleierte. Kleine Steine wurden zu größeren, bis sie als riesige Felsen das ganze Tal auskleideten. Inna zog sich Schürfwunden zu, hangelte sich mit klammen Fingern die Felsen hinauf. Kekse, Kakao. Sie verschlangen ihren Proviant gierig. Schon nach wenigen Minuten sprang Jenke ungeduldig auf. »Wir müssen uns beeilen, es darf nicht dunkel werden.«

      Irgendwann gelangten sie zu einer schmalen Spalte, umschlossen von bemoosten Felsen, die weit über das Tal ragten.

      »Hier durch«, verkündete Jenke. »Siehst du?« Er zeigte auf ein kleines Steinmanderl. »Damit wir uns nicht verlaufen.«

      Sie zwängten sich durch die schmale Kluft, Inna brannte der Rücken. Vor Kälte und Anspannung. Und weil die Felswand ihre Haut wund gescheuert hatte.

      »Weiter!«, forderte er sie auf.

      Weiter. Es wurde noch enger, noch kälter. Dunkler.

      »Hier kommen wir nie wieder raus«, hauchte Inna. »Wenn wir weitergehen, bleiben wir stecken.«

      »Hosenschisserin!«

      »Selber!« Sie streckte Jenke die Zunge raus, schob sich weiter durch die Felsspalte. Sie kletterten auf einen Vorsprung, tief unter ihnen eine mit Farn ausgekleidete Schlucht.

      Er deutete auf die gegenüberliegende Seite. »Siehst du?«

      Inna verstand nicht sofort, was Jenke ihr zeigen wollte.

      »Da!« Er drehte ihren Kopf mit der Hand in die richtige Richtung, und dann entdeckte Inna ihn. Den Eingang zu einer Höhle. Ein dunkler Einstieg, verdeckt und getarnt durch Brennnesseln und Efeu, die sich kränklich durch die sonst so raue Schlucht rankten.

      »Henri hat sie mir gezeigt.« Jenke schnappte aufgeregt nach Luft. »Er hat gesagt, dass uns hier niemand finden kann.«

      Eine ganze Weile standen sie da. Starrten auf den engen Einstieg der Höhle.

      »Und jetzt?«, fragte Inna vorsichtig.

      »Jetzt gehen wir da rein.«

      Inna schluckte. »Ich will da nicht rein.«

      »Und warum nicht?«, stöhnte Jenke. »Wenn du nicht mitkommst, gehört alles, was ich darin finde, mir allein. Auch das Gold.«

      Inna zögerte. »Du zuerst.«

      »Das geht nicht.«

      »Warum nicht?«

      »Was, wenn ich nicht mehr rauskomme?«, flüsterte Jenke. »Du kennst nicht einmal den Weg zurück. Du müsstest sterben. Verhungern und erfrieren und sterben!«

      »Hör auf damit!«

      Jenke verschränkte seine Arme und presste entschlossen seine Lippen zusammen. »Alles Gold gehört mir!«

      »Vielleicht sind dort Skorpione und Spinnen.« Inna knabberte an ihrer Unterlippe. »Lass uns wieder nach Hause gehen.«

      Jenke schaute sie feindselig an.

      Sie roch Steine, Erde, Moos. Es begann, stärker zu nieseln. Kalter Regen, der sich wie nasser Staub auf ihre Haare legte. »Ich laufe zurück.« Inna zitterte. »Es wird dunkel.«

      »Morgen. Morgen klettern wir runter.« Jenke stemmte seine Hände in die Hüften. »Und holen uns das Gold. Versprochen?«

      Inna nickte zaghaft.

      »Und kein Wort zu niemandem«, befahl er.

      Jenke lief vor, orientierte sich an den Steinmanderln. Einmal rutschte er ab und schürfte sich seinen Knöchel auf.

      »Siehst du?«, schimpfte Inna. »Nur, weil du in die Höhle willst. In der Höhle ist kein Gold! In der Höhle sind Spinnen und Kröten und Skorpione.«

      »Sind Sie am nächsten Tag zurückgekehrt?«

      Inna schaute auf. »Ja.«

      »Und?«

      »Und? Könnten Sie bitte in ganzen …«

      »Bitte!« Igor presste Luft durch seine geschlossenen Lippen. »Bitte erzählen Sie weiter.«

      Inna blinzelte.

      *

      Jenke konnte beim Frühstück kaum stillsitzen. Er ließ nervös seine Beine baumeln, stieß mit seinem Fuß ständig gegen das Stuhlbein.

      »Hör auf damit!« Henri sah von seiner Zeitung auf. »Was ist mit dir, Junge?«

      »Inna und ich …« Er blickte Inna eindringlich an. »Wir wollen los.«

      Inna nickte unbeholfen. »Spielen.«

      »Bei dem Regen?« Henri faltete seine Zeitung zusammen. »Wo wollt ihr hin?«, fragte er prüfend.

      »Wissen wir noch nicht.« Jenke zuckte teilnahmslos