Das Echo deiner Frage. Eva Weissweiler

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Название Das Echo deiner Frage
Автор произведения Eva Weissweiler
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783455006445



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BernauerBernauer, Rudolf. »Ein nicht enden wollender Trubel, ein Ameisenhaufen, ein Bienenschwarm. […] Man tanzte, füllte die Vergnügungsstätten, die Ballsäle und die Straßen. Es war wie ein ewig toller Jahrmarkt. Was hatten sie? Was war in sie gefahren? Fiel dieser Wahnsinn nur mir auf?«[212]

      Als Kaiser Franz JosefFranz Joseph I. sein berühmtes Manifest »An meine Völker« verfasste und zum Krieg gegen Serbien und Russland aufrief, meldete sich Doras Bruder ViktorKellner, Viktor sofort freiwillig.[213] Er hatte zwar vor, Farmer in Palästina zu werden, wollte aber vorher noch seinen russischen Glaubensgenossen zu Hilfe eilen, die seit langem unter den schlimmsten Pogromen zu leiden hatten. Auch KellnerKellner, Leon Senior glühte vor Kriegsbegeisterung. Schon nach der Annexion Bosniens durch Österreich hatte er erklärt, dass sein Land auf dem Balkan eine heilige Pflicht zu erfüllen habe, da sonst »in Ungarn, Siebenbürgen und andere[n] große[n] Provinzen« die »Barbarei«, »wüstes Chaos und despotische Anarchie« ausbrechen würden, vor allem durch den Vormarsch »asiatischer Raubzüge«.[214] Im Kollegenkreis stand er mit dieser Position relativ allein. Sogar enge jüdische Freunde waren der Meinung, dass jedes Schönreden der österreichischen Expansionspolitik Öl auf die »Feuerherde« des Nationalismus sei.[215]

      KellnerKellner, Leon war schon zu alt, um noch eingezogen zu werden, doch der Krieg würde ihn trotzdem nicht verschonen. Die russische Grenze war nicht weit von Czernowitz entfernt, und schon bald kam es zu einer ersten schrecklichen Schlacht, der noch viele weitere folgen würden. »Links und rechts die Leiber der tapferen Streiter, die ausgerungen haben auf dem Feld der Ehre«, schrieb das Czernowitzer Tagblatt. »In großer Anzahl, ja haufenweise die Leichen russischer Soldaten, die der fliehende Feind nicht mehr bergen konnte, aber auch die todesstarren Häupter unserer Lieben neben dem Feinde. Jetzt sind sie alle gleich, der Sensemann hat die Unterschiede […] ausgeglichen. Dort liegen Kadaver von Pferden, Feldgeräte, Mützen, in Blutlachen. Ein Schauer erfasst uns und wir erbeben. Das ist der Krieg.«[216]

      Am 1. August 1914, dem Tag der deutschen Mobilmachung gegen Russland, saß Walter Benjamin mit Freunden im Café des Westens am Berliner Kurfürstendamm und beratschlagte, was zu tun sei. Während sich viele aus seinem Kreis freiwillig meldeten, darunter auch Doras ehemaliger »Schwarm« Franz SachsSachs, Franz, habe er »keinen Funken von Kriegsbegeisterung« gespürt, wird er später schreiben.[217] Um seiner zwangsweisen Einberufung zuvorzukommen, ging er dennoch zur Kaserne auf der Belle-Alliance-Straße, wo er sich pro forma für die Kavallerie anmelden wollte. Doch die diensthabenden Ärzte lehnten ihn ab, weil er zu kurzsichtig und zu unsportlich sei. Außerdem habe er unerklärliche Schwellungen auf beiden Handrücken. Hochzufrieden und beinahe ironisch lächelnd ging er zur Geschäftsstelle der Freien Studentenschaft und erzählte einem Freund von seinem Erfolg.[218]

      Sein Bruder GeorgBenjamin, Georg war da völlig anders. Das Studium in Genf gefiel ihm nicht. Alles war so kalt, trüb, nüchtern und langweilig. »Sehr gerne würde ich mich als Freiwilliger melden«, schrieb er am 5. August 1914 in sein Tagebuch. »Es drängt mich unbezwingliche Abenteuerlust. Endlich könnte ich Großes erleben, […] abgesehen von der Pflicht, gegen die Unkultur zu kämpfen.« Noch zögerte er, da er glaubte, dass Walter bereits eingezogen sei. Zwei Söhne im Feld und in Lebensgefahr – das wollte er seinen Eltern nicht antun. Doch als er von Walters Zurückstellung hörte, gab es kein Halten mehr. Er verließ Genf und fuhr wieder zurück nach Deutschland, um sich freiwillig zu melden. »Bin als Kürassier angenommen«, telegraphierte er kurz darauf aus der Stadt Brandenburg nach Hause.[219]

      Etwa um dieselbe Zeit, am 8. August 1914, geschah etwas, was Walter Benjamin völlig aus der Bahn warf. Einer seiner besten Freunde, Christoph Friedrich HeinleHeinle, Christoph Friedrich »Fritz«, Sprechsaal-Mitglied und vielversprechender Lyriker, hatte den Gashahn aufgedreht und sich mit seiner Freundin Friederike SeligsonSeligson, Friederike »Rika« umgebracht. HeinleHeinle, Christoph Friedrich »Fritz« war erst knapp über 20. Die Vossische Zeitung nannte »Liebesgram« als Motiv.[220] Doch seine Freunde waren sich darüber einig, dass es etwas anderes gewesen sein müsse, wahrscheinlich Verzweiflung über den Wahnsinn des Krieges. Tatsächlich aber war dem Selbstmord ein Zerwürfnis mit Benjamin vorausgegangen, Streitigkeiten im Sprechsaal, im Anfang und in der Freien Studentenschaft, wie sie in diesem Kreis dauernd vorkamen.[221] Da HeinleHeinle, Christoph Friedrich »Fritz« und seine FreundinSeligson, Friederike »Rika« sich nicht in ihrer Privatwohnung getötet hatten, sondern im Amt für soziale Arbeit auf der Brückenallee, wo die Versammlungen des Sprechsaals stattfanden,[222] fühlte Benjamin sich mitschuldig und fiel für Wochen in Apathie, unfähig, zu arbeiten und weiter an die Jugendbewegung zu glauben. Ab sofort gab es auch die Zeitschrift Der Anfang nicht mehr, zumal die meisten männlichen Mitarbeiter im Feld, im Exil oder schon gefallen waren, der 18-jährige Peter KollwitzKollwitz, Peter zum Beispiel, der seine Eltern beschworen hatte, sich freiwillig melden zu dürfen und schon zwei Monate später während der ersten Flandernschlacht ums Leben kam.

      Zu dem radikalen Schnitt, den Benjamin jetzt machte, gehörte auch der Bruch mit WynekenWyneken, Gustav, der die Jugend in glühenden Worten dazu aufgefordert hatte, in den Krieg zu ziehen. Es sei ein »guter« und »heiliger« Krieg. Die ganze Welt sei »wie aus einem Schlummer erwacht«. Jetzt gebe es nur noch eines: »letzte Hingebung und Opferwilligkeit«, um sich »Ruhm und Heldentum« zu erwerben.[223] Das war das Ende. Benjamin sagte sich »gänzlich und ohne Vorbehalt« von ihm los:

      Sie haben den fürchterlichsten scheußlichen Verrat an den Frauen begangen, die Ihre Schüler lieben. Sie haben dem Staat […] die Jugend geopfert. […] Sie ist Ihren irrenden Händen entfallen und wird weiter namenlos leiden. Mit ihr zu leben, ist das Vermächtnis, das ich Ihnen entwinde.[224]

      Gaskrieg bei Ypern

      Im Wintersemester 1914/15 waren bereits 284 Studenten der Berliner Universität »auf dem Felde der Ehre« gefallen, eine Zahl, »die aber mutmaßlich noch erheblich hinter der Wahrheit« zurückblieb.[225] Fast alle Professoren waren mit »kriegswichtigen« Aufgaben betraut worden oder hatten sich freiwillig dazu gemeldet, Fritz HaberHaber, Fritz zum Beispiel, Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Forschung, der die wissenschaftliche Verantwortung für das gesamte Kampfgaswesen übernommen hatte. Dora kannte ihn, denn sie war seine Studentin. Seine Frau, Clara HaberHaber, Clara, geborene Immerwahr, war ebenfalls Chemikerin. Beide stammten aus Breslau und waren jüdischer Herkunft.

      Ende April 1915 ging die Nachricht durch die Presse, dass die Deutschen zum ersten Mal Giftgas eingesetzt hätten, in der zweiten Flandernschlacht bei Ypern. Wissenschaftlicher Leiter des »Experiments« war Fritz HaberHaber, Fritz, der dafür zum Hauptmann befördert wurde. Nach einem von ihm entwickelten Verfahren entwichen 180 Tonnen Chlorgas aus Flaschen, die in Schützengräben versteckt worden waren, sodass dichter Nebel entstand, der den Feind kampfunfähig machte. Bei diesem Angriff fanden über 1000 Franzosen den Tod. Tausende andere erlitten schwere Lungenödeme und Verätzungen im Bereich der Augen und Atemwege. Doch das war HaberHaber, Fritz noch nicht genug. Er forschte nach noch effizienteren Giftgasen wie Senfgas oder Phosgen,