Das Echo deiner Frage. Eva Weissweiler

Читать онлайн.
Название Das Echo deiner Frage
Автор произведения Eva Weissweiler
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783455006445



Скачать книгу

Jahren in Czernowitz sehr verändert hatte.

      Man wusste manchmal gar nicht mehr, wer oder was er war. Anglist? Zionist? Journalist? Österreichischer Patriot? Patriarch? Orthodoxer Jude? Politischer Agitator? Als Chronist der nordamerikanischen Literatur, über die er ein hervorragendes Kompendium schrieb,[157] trat er leidenschaftlich gegen Rassismus ein. Als Jude verteidigte er den Alleinanspruch seines Volkes auf das Alte Testament, das sich die Christen wie Räuber in der Nacht angeeignet hätten.[158] Er träumte von der Herrschaft der Juden »vom Euphrat bis zum Libanon«[159] und war doch dafür, dass sie sich in Österreich als »Nation« etablierten.[160] Er liebte die vermeintlich friedliche k.u.k. Monarchie, in der alle Völker unter dem Schutz eines großmütigen Kaisers lebten und nannte sie gleichzeitig eine feindselige Fremde.[161] Er pries Harriet Beecher-StoweBeecher-Stowe, Harriet als geborene Erzählerin und rief die jüdische Frau zurück an den Herd. Er schalt den amerikanischen Calvinismus als »Schreckenslehre« und verherrlichte seine eigene orthodoxe Kindheit, in der er vom Rebben mit der Peitsche geschlagen worden war.[162] Vielleicht war er in Czernowitz zu weit weg von der Familie und vom kollegialen Diskurs, sodass ihm jede Selbstkritik abhandengekommen war.

      Seine Besuche in Wien wurden immer seltener. Wenn er da war, gab es viel Streit, vor allem mit Dora, die ihm nicht immer folgen konnte und wollte. Sie war von Wilhelm JerusalemJerusalem, Wilhelm philosophisch geschult worden und konnte gut diskutieren, auch über Themen, von denen KellnerKellner, Leon besonders viel zu verstehen glaubte, wie etwa Sozialismus und Zionismus. KellnerKellner, Leon war immer gegen die »Rothen« gewesen. Jerusalem dagegen hielt MarxMarx, Karl und LassalleLassalle, Ferdinand für »die größten Kulturfaktoren des 19. Jahrhunderts« und glaubte, dass sie die »neue Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft«, die Soziologie, begründet hätten.[163] Er war dezidiert gegen den Zionismus, dem er sich aufgrund seines »Bildungsganges« und seines »Verhältnisses zur deutschen Wissenschaft« nicht anschließen könne, wenn er ihn auch als vitale Kraft betrachte.[164] Insgesamt argumentierte er viel sachlicher als KellnerKellner, Leon, kannte aber – da studierter Rabbiner – Bibel und Talmud mindestens genauso gut wie er, wenn nicht besser. Das mag einen Keil zwischen Vater und Tochter getrieben haben: dass sie ihn nicht mehr als einzige Autorität sah, sondern sich auch an anderen – ebenfalls jüdischen – Vorbildern orientierte. Zu Gershom ScholemScholem, Gershom (Gerhard) sagte sie einmal, dass sie sich von dem »zionistischen Milieu« ihres Elternhauses distanziert habe.[165] In Wahrheit aber war es wohl eher der VaterKellner, Leon, den sie immer kritischer sah oder vielleicht schlicht nicht mehr ertragen konnte.

      Zwischen Motz-Bar und Sprechsaal

      Die japanische Pension Matsushita in Berlin lag auf der Motzstraße zwischen Viktoria-Luise- und Nollendorf-Platz. Es war ein buntes internationales Viertel mit Theatern, Cafés, Läden und Travestie-Lokalen, die von Homosexuellen beiderlei Geschlechts besucht wurden. Unten im Haus befand sich eine Bar, die »Motz-Bar«, gleich nebenan das »Café Imperial«, in dem man manchmal einen Herrn namens Rudolf SteinerSteiner, Rudolf, den Begründer der »Anthroposophie«, sehen konnte. Mit seiner Frau, einer Schauspielerin, wohnte er seit Jahren auf der Motzstraße, wo es ihm offenbar gut gefiel. Gelegentlich spazierte auch die Dichterin Else Lasker-SchülerLasker-Schüler, Else, »Prinz von Theben« genannt, in ihren exotisch bunten Gewändern vorbei, denn das Hotel Koschel im Haus Nummer 78 war ein beliebter Künstlertreffpunkt, in dem es billige Zimmer auf Kredit gab.

      Auf Dauer brauchten Dora und MaxPollak, Max natürlich eine richtige Wohnung, in der sie ihr Klavier, ihre Bücher und ihren Hausrat unterbringen konnten. Zur Hochzeit waren sie großzügig beschenkt worden: mit Bildern, Sitzmöbeln, Schränken, Glas, Porzellan, Teppichen, alles von erlesener Qualität. Dora war an einfache Wohnverhältnisse gewöhnt. Aber MaxPollak, Max hatte es gerne etwas luxuriöser. Seine Verwandten pflegten in noblen Villen zu leben, ob in Brünn oder in Bielitz. Es musste also etwas Adäquates beschafft werden, in der Emser Straße 22 in Wilmersdorf, ein vornehmes Domizil mit »dekorativen Stuckverzierungen, charaktervollem Parkett, weißen Sprossentüren« und einem »verglasten Erker«, das »perfekte Zuhause für Ästheten und Repräsentanten, die sich in herrschaftlichen Räumen wohl fühlen«.[166] Anders als auf der Motzstraße, wo alle sozialen Schichten nebeneinander lebten, gehörten die Mieter hier ausschließlich den gehobenen Kreisen an: ein Verlagsbuchhändler, ein Gesangsprofessor, ein Fabrikbesitzer, ein Architekt. Dass die beiden sich diese Wohnung leisten konnten, obwohl niemand von ihnen auch nur einen Pfennig verdiente, lag daran, dass der Vater von Max, Theodor PollakPollak, Theodor am 28. Dezember 1912 »nach langem schweren Leiden sanft entschlafen« war,[167] sodass ein Teil von MaxPollak, Max’ Erbe an der Bielitzer Schrauben-und-Nieten-Fabrik fällig wurde.

      Dora und MaxPollak, Max immatrikulierten sich im Wintersemester 1912 erneut für Chemie, wahrscheinlich ohne allzu oft in der Universität zu erscheinen, denn Berlin war einfach zu aufregend. Über zwei Millionen Einwohner, prächtige Kinos auf dem Kurfürstendamm, das neue Kaufhaus Tietz in der Leipziger Straße, die Ausstellung der Sezession mit Werken von LiebermannLiebermann, Max, BeckmannBeckmann, Max, PechsteinPechstein, Max und CorinthCorinth, Lovis, Uraufführung von SchönbergSchönberg, Arnold-Kompositionen, Eröffnung eines neuen Opernhauses in Charlottenburg, fast 50 U-Bahnhöfe, provozierende Stücke von Sternheim am deutschen Theater. Wer sollte sich da noch für Chemie interessieren?

      Zu vereinsamen drohten sie auf der Universität allerdings nicht, denn sie fanden viele Kommilitoninnen und Kommilitonen, die aus Galizien, Kärnten, Niederösterreich oder Böhmen kamen. Sie fanden sogar einen alten Freund wieder, Herbert BlumenthalBlumenthal, Herbert. Er war oft in Wien gewesen, weil er dort Verwandte oder Bekannte hatte, die ihrerseits mit den Kellners verkehrten. Später wird er Dora als eine »Wiener Freundin« bezeichnen, die »den gescheitesten und reichsten Mann ihres Kreises geheiratet« habe, was nur zeigt, wie wenig er von ihr wusste. Von ihm stammt der schöne Ausspruch, sie sei damals »eine ehrgeizige Gans« gewesen, »die in den allerneuesten geistigen Strömungen schwimmen wollte«.[168] Doch PollakPollak, Max, ein »Neuropath, unfähig, einen Beruf zu ergreifen«, habe sie sehr enttäuscht. Er habe ein Buch nach dem anderen verschlungen, endlos geredet und sich zu einer »ermüdenden Enzyklopädie für Kunst und Wissenschaft« entwickelt. Diese Beleidigungen hat BlumenthalBlumenthal, Herbert, der sich später Belmore nannte, 1975, elf Jahre nach Doras Tod, niedergeschrieben, wahrscheinlich aus Frustration und verschmähter Liebe.

      Damals – 1912 – verstand er sich offenbar noch sehr gut mit ihr. Er war es wohl, der Dora und MaxPollak, Max in den »Sprechsaal« einführte, der im Sommer 1913 in Berlin gegründet wurde. Interessenten sollten sich