Das andere Brot. Rosemarie Schulak

Читать онлайн.
Название Das andere Brot
Автор произведения Rosemarie Schulak
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783903229259



Скачать книгу

steht sogar der Name der Frau, die er nicht kennt. Nie gesehen, sagt er dem Mann vor ihm. Nein wirklich nie! Ein Vater freilich, ist auf dem Papier nicht dokumentiert, auch nicht zu finden gewesen, denn in dieser leeren Zeile – er starrt sie immer noch an – da steht überhaupt nichts …, nichts als ein Strich. Das würde er sich von jetzt ab merken müssen und nie vergessen. Ein Strich für den Vater …

      Das Papier entgleitet der erstarrten Hand, die es halten sollte. Georg bückt sich, es aufzuheben. Dabei wird ihm schwindlig und schlecht zum Erbrechen. Der Amtsträger ist auf einen so seltsamen Fall nicht vorbereitet, ihm ist bei der Sache ja auch nicht besonders wohl. Und weil seine Scherze nicht ankommen bei Georg und ihm jetzt auch nichts mehr einfällt, weist er der Einfachheit halber den Burschen auf die Straße hinaus. Und aufpassen solle er auf die Papiere, nur ja nichts verlieren!

      Georg stolpert ins Freie. Er taumelt ein wenig, dann atmet er die schlechte Luft aus seinem Inneren aus und setzt sich in Bewegung. Bisher war auf die Fragen der Leute, wie alt er denn sei, immer nur ein verschämtes Achselzucken möglich gewesen. Manche hatten die hinterhältige Frage sogar wiederholt, wenn er rot wurde, zögerte und schnell kehrt machte, um davonzulaufen. Ab nun würde das anders sein. Kaum zu glauben, dass da ein Geburtsdatum steht und überall sein Name vermerkt ist. Da! Eines der Blätter trägt die Überschrift „Taufschein“. Georg nimmt sich vor zu fragen, was eigentlich damit bescheinigt ist. Was eine Taufe denn sei und wozu sie gut ist. Dieses Wort und was daran wichtig ist hat ihm der Mensch in der Amtsstube nicht erklärt. Georg will es wissen und weiß nicht, wen er fragen kann ohne Gelächter, Hohn oder andere Ärgernisse zu ernten.

      Das Papierbündel hält er jetzt, freier atmend, ganz fest in der Hand. Die zittert zwar noch, doch was seine Finger festhalten wollen, das halten sie fest. Daran rüttelt vergeblich der Wind, die Finger bleiben gehorsam. Da steht ja sehr genau sein Geburtstag, sein tatsächliches Alter lässt sich also nachrechnen. Nichts, denkt Georg, rein gar nichts von diesen Papieren darf jetzt davonfliegen.

      *

      Nur ungern erzählt er später diese Geschichte, und auch nur dann, wenn es dem Frager ein glaubhaftes Anliegen ist. Die Sätze kommen sehr kurz aus seinem Mund, nervös und kaum je ohne Zigarette.

      Was habt ihr beim Volkssturm denn gemacht? In einer vorgerückten Stunde wird Georg gefragt. War der Krieg nicht schon aus, als ihr, das letzte Aufgebot, knapp vor dem Ende des Ganzen, als halbe Kinder hinauszogt, vermutlich ohne Waffe in euren bibbernden Händen?

      Ach Waffen! meint Georg abschätzig. Die hätten wir sowieso nicht gebrauchen können, wie denn auch und wozu. Für Waffenausbildung war keine Zeit. Und Waffen waren ja gar nicht mehr da zum Schluss, weil alles weg oder einfach an einen anderen Ort gebracht worden war. Abtransportiert. Wie hätten denn wir … und wo …

      Nach und nach erst entsteht nach Georgs Erzählung ein halbwegs fassbares Bild. In die Gegend von Linz habe man am Schluss diese Burschen verschoben. Dort gab es noch deutsches Militär, dort wurde ab und zu noch geschossen. Nein, er war noch nicht sechzehn als er hat weggehen müssen, er war damals erst fünfzehn. Doch behielten sie ihn und andere Fünfzehnjährige auch, eine lose Gruppe von unausgebildeten Buben. Bis sie sechzehn waren und danach noch die Monate bis zum Ende. Aber doch Monate, die ihr bis Kriegsende beim Volkssturm verbracht habt! Wo denn, um Himmels Willen, seid ihr vorher gewesen und was habt ihr gemacht? Georg weiß es nicht mehr. Aber er muss doch Erinnerungen haben?

      Nein, keine Erinnerungen! Ob und wann der Krieg aus war oder nicht, auch das teilte man den Burschen in jenem Frühjahr nicht mit. Doch kann der Krieg nicht zu Ende gewesen sein, versucht Georg zu rekonstruieren, sonst hätten ja die Leute von der Wehrmacht bei Linz nicht geschossen. Die wenigen noch vorhandenen Waffen haben ältere Volkssturmmänner bekommen. Nicht wir, sondern Leute, die damit umgehen konnten, sagt Georg. Für seinesgleichen sei tatsächlich nichts übrig gewesen. Am Ende nicht einmal mehr Verpflegung.

      Aber Handgranaten für die feindlichen Panzer, die müssten doch dagewesen sein? Ja, die seien da gewesen, für eine Ausbildung der Volkssturmleute war aber keine Zeit, keine Möglichkeit. Waren doch nicht einmal mehr die Ausbildner da und die nötige Motivation der Burschen erst recht nicht. Angst ja, die habe jeder gehabt. Und Hunger. Sonst nicht viel, kaum ein gekochtes Essen. Am Ende seien die meisten deshalb davongelaufen. Die Lebensmittel waren weggeschafft worden, durften dem Feind nicht in die Hände fallen. Ja, das haben die uns gesagt. Aufgeladen auf Lastwagen und einfach fort. Deswegen auch die vielen Streitereien, ganz fürchterlich hätten die Vorgesetzten einander beschimpft.

      Wie? Es wurde dort nicht gekämpft? O doch! Doch! erinnert sich Georg. Das Ärgste war ja der Lärm, nur wer geschossen hat, war nie ganz klar. Irgendwann hat dann einer gesagt, wer noch vor Ort sei von den Jungen, der müsse jetzt nach Mauthausen, das müsse man noch … und so. Man bräuchte vielleicht dort Helfer. Warum dort Hilfe so nötig war, wer oder was uns Grünschnäbel dort erwartet hätte, wurde nicht mitgeteilt. Marschieren sollten wir. Los!

      Also sind wir gegangen, erzählt Georg. Bleiben konnten wir nicht. Wir waren ja nicht mehr viele. Unterwegs haben manche gewarnt. Nur nicht hinein nach Mauthausen, wer weiß, was dort los ist! Manche haben etwas gewusst, aber nicht gesagt, worum es sich handelte, wir anderen ahnten damals ja nichts. Die meisten sind fortgerannt aus Angst, gefangen genommen zu werden. Aus Not, aus Hunger und Ungewissheit sind sie einfach fort. Am Ende waren wir nur mehr fünf oder sechs und auch keine Aufsicht mehr da. Nur der Hunger. Da sind wir auch weg und schnellstens davon …

      Ja was denn! Wohin seid ihr denn da gelaufen? Georg nestelt an seiner Zigarette. Das hätten wir natürlich nicht dürfen, aber da war eine Küche dort in der Nähe, man hat es ja weithin gerochen und wir waren so hungrig! Und wenn das die Amerikaner sind? hat einer gefragt. Das war uns egal. War ja auch wirklich egal! Was? Amerikaner? Ja freilich. Aber was macht das schon, wenn der Magen so fürchterlich leer ist. Entgegen gerannt sind wir denen, so schnell wir konnten. Den Amerikanern? Ja, den Amerikanern! Rauch ist dort aufgestiegen und Essensgeruch. Wir sind von der Straße ab und gleich über den Graben gesprungen, ohne zu überlegen. Über die Wiesen hinauf gerannt bis zu den Bäumen, es musste ja alles sehr schnell sein. Wäre ein Vorgesetzter dabei gewesen, er hätte uns alle erschießen müssen und vielleicht auch tatsächlich erschossen.

      Und die Amerikaner? Die haben euch gleich gefangen genommen? Aber nein, wehrt Georg ab, die haben ja gesehen, dass wir keine Soldaten sein konnten, wir waren ja Buben, halb in Zivil, die nur noch laufen konnten, ungewaschen, ausgehungert und ganz verrückt vor Angst. Ohne militärische Ausrüstung, nur mit einer Jacke, mehr war nicht.

      Was haben die denn gemacht mit euch, die Amerikaner? Die haben gelacht über uns blöde verwahrloste Buben, haben unsere hingestreckten Papiere nur kurz betrachtet und gleich geahnt, was uns in ihr Lager getrieben hat. War ja vermutlich zu sehen in welchem Zustand .., und dann haben wir uns sogar hinsetzen dürfen und einer hat uns gleich ausgefragt. Wir wollten nicht nach Mauthausen, das haben die ja auch eingesehen. Bleibt da, ihr passt hier auf das Essen auf, das noch übrig ist. Wir gehen selber hinein, okay? Das Tor zum KZ Mauthausen dürfte ganz in der Nähe gewesen sein. Gesehen hat man es nicht. So sind wir im amerikanischen Lager geblieben und durften essen was in den Kesseln noch übrig war. Keiner hat uns gehindert.

      Wie lang habt ihr bleiben müssen? Ein paar Tage waren wir dort, ich weiß es nicht mehr genau. Vielleicht drei oder vier, vielleicht waren es mehr. Irgendwann, eines Nachts, sind wir auf und davon. Nach Linz, das wäre nicht weit, hat einer gemeint, und so sind wir gelaufen, ohne die Richtung genau zu wissen. Einfach gelaufen in der Nacht. Und keiner von den Amerikanern ist uns gefolgt. Vielleicht sind sie froh gewesen uns los zu sein. Was hätten sie denn mit uns anfangen sollen? In Linz war ich dann allein, die anderen hatten sich vorher schon abgesetzt.

      Irgendwo in der Früh, in der Dämmerung zeigten sich Umrisse von Gebäuden, erzählt Georg. Ein einzelner Passant unterwegs bestätigte, ja, das war die Stadt Linz. Nach einer weiteren Auskunft dann der Schrecken, dass es von hier kein Fortkommen gab. Keine Züge, rein gar nichts. Ruinen waren zu sehen da und dort und der Bahnhof, die Gleise angeblich nicht benutzbar; und ab und zu amerikanische Fahrzeuge, denen er ausweichen musste aus guten Gründen. Erwischen durfte man sich nicht lassen.

      Nur wenige Menschen seien in Linz unterwegs gewesen, erzählte Georg. Und wenn, dann genau so vorsichtig