Название | Die große Zerstörung |
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Автор произведения | Andreas Barthelmess |
Жанр | Кинематограф, театр |
Серия | |
Издательство | Кинематограф, театр |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783411913121 |
Wenn sich in den letzten Jahren so viel so schnell verändert hat, was kommt dann erst in den nächsten Jahren auf uns zu? Wird uns die Technologie überrollen? Wohin ziehen wir uns zurück, wenn uns alles über den Kopf wächst? Haben wir überhaupt noch so etwas wie eine Heimat oder ein Zuhause? Wo finden wir bei all der digitalen Aufgeregtheit um uns herum Ruhe? Und wie? Hilft uns da »Achtsamkeit«, oder bedeutet das ganze Achtsamkeitsgedöns nur noch mehr Stress, also Anti-Stress-Stress? Und wie steht es mit der Politik? Ist, wie man immer wieder hört, die Demokratie in der Krise, und wenn ja: Wie kriegen wir sie da wieder raus?
Um die Zukunft zu gestalten, müssen wir die Gegenwart verstehen. Schon Shakespeares Hamlet klagt, die Zeit sei aus den Fugen, und, ja, Krisen und Revolutionen gab es immer. Was aber ist neu an den Brüchen und Extremen unserer Zeit?
»Disruption« heißt »Bruch« oder »Zerstörung«, und obwohl es sich um ein lateinisches Fremdwort handelt, hat es zuerst in der englischsprachigen Start-up- und Tech-Welt Karriere gemacht. Ursprünglich in der Evolutionsbiologie verwendet, bezeichnet »disruptive Selektion« den Vorteil, den unter bestimmten Umweltbedingungen die Extremtypen gegenüber den Durchschnittstypen haben.
Heute ist das Wort Start-up cool. Allerdings ist der Gebrauch mittlerweile dermaßen inflationär, dass es sogar bei den CEOs der alten Industrie zur Modephrase geworden ist, die eigentlich für das Schritt-für-Schritt-Denken der Vergangenheit stehen. Dabei meint Disruption gerade nicht eine, wie es im Tech-Jargon heißt, »inkrementelle« Weiterentwicklung, etwa von der Vinylplatte zur CD, sondern eine ganz neue, plötzliche und schnelle, ja explosionsartige Entwicklung mit völlig neuen Ansätzen unter völlig neuen Bedingungen: also etwa Napster und iTunes statt CD.
In der Biologie hat man die Disruption immer wieder an den Darwinfinken beschrieben, die auf den Galapagosinseln zu Hause und nicht zufällig nach Charles Darwin benannt sind. Zunächst hatten die Finken anscheinend alle Schnäbel mittlerer Länge und Breite. Ziemlich normal. Je weiter die Abweichung von dieser Norm, desto seltener kam sie vor – Stichwort Gauß’sche Normalverteilungskurve, manche kennen diese Glockenkurve noch vom letzten Zehnmarkschein. Auf einmal jedoch setzten sich zwei Extremtypen von den Rändern gegen die angepassten Normalos durch: die breiten, kurzen Schnäbel mit der Kraft zum Knacken großer Samen und die schmalen langen Schnäbel mit der Geschicklichkeit fürs Aufpicken kleiner Samen. Die mittlere Form, sozusagen die Schnabel-Volkspartei der Galapagosfinken, war jetzt anscheinend zu schwach für die großen Samen und zu ungeschickt für die kleinen. Mit anderen Worten: Die galapagossische Schnabel-Volkspartei fiel einer um sich greifenden Polarisierung zum Opfer. Ganz ähnlich ging es den Sozialdemokraten und den Konservativen im Europa der letzten Jahre.
In der Ökonomie bezeichnet der Begriff »Disruption« radikale technologische Ablösungsprozesse in Industrien und Märkten. In einem viel beachteten Buch mit dem Titel The Innovator’s Dilemma hat der Wirtschaftswissenschaftler Clayton M. Christensen 1997 beschrieben, wie auf dem Markt immer wieder ausgereifte Produkte sowie gewachsene, marktbeherrschende Strukturen und Unternehmen zerstört und von neuen Firmen und Produkten vollständig verdrängt werden – und zwar selbst dann, wenn der Marktführer zuvor sein Produkt, den Bedürfnissen der Kundschaft folgend, kontinuierlich weiterentwickelt und verbessert hatte. Denn solches Fleißkärtchensammeln, hat Christensen gezeigt, schützt ein Unternehmen nicht davor, plötzlich von der Konkurrenz hinweggefegt zu werden.
Der Trick der Disruptoren ist dabei, im Unterschied zur inkrementellen Peu-à-peu-Verbesserung radikal neue Ansätze an ganz neuen Kundengruppen zu testen, und das meist in Marktnischen. Damit scheitern sie zwar häufig. Wenn sie jedoch früh und billig genug scheitern, können sie so lange weiterprobieren, bis schließlich ein Disruptor den einen durchschlagenden Erfolg hat, der dann in kurzer Zeit den ganzen Markt umwälzt. Wer die Disruption auslöst, bricht also – das ist das Verfahren – aus den alten Mustern und Spielregeln des Marktes aus. Gerade dadurch gelingt ihm der Durchbruch. Der Disruptor ist der Rechtsüberholer, der das Rennen gewinnt.
Das habe ich selbst erlebt. Ich habe mitgeholfen, europäische Tech-Unternehmen aufzubauen. Heute berate ich digitale Angreifer. Aber von Haus aus bin ich, Jahrgang 1979, ein Kind der alten Welt. Mit den klassischen Waldorfschultalenten ausgestattet, haptisch und dyslexisch veranlagt, faszinieren mich nicht Joystick, Tetris und Counter Attack, sondern Fußball, Mittelbayerische Zeitung und selbst gemalte Wahlplakate für Johannes Rau. Wenn meine Freunde vor Papas Commodore 64 sitzen, gehe ich raus und gieße den selbst gepflanzten Rhododendron. Als Siebenjähriger kämpfe ich noch mit dem Schleifebinden, aber kaufe mir unter Einsatz des kompletten Sparbuchs mein erstes Kunstwerk. Zwanzig Jahre später bin ich Volkswirt und, nach einem Intermezzo bei den UN in New York, Geschäftsführer einer neuen Kunstmesse des damals stolzen Verlagshauses Gruner+Jahr.
2008 kommt die Finanzkrise. Scherben überall. Banken gehen pleite, Print-Titel werden eingestellt, meine Kunstmesse sowieso – aber Obama verspricht »Change«. Mir wird klar: Die Technologie treibt den Wandel, den Etablierten geht es an den Kragen, die große Zerstörung ist da. Bei Gruner+Jahr aber, dem leckgeschlagenen deutschen Verlagstraumschiff, stellt man auf dem Sonnendeck noch mal die Liegestühle um. Ich verlasse den Dampfer. Es folgen unternehmerische Lehrjahre, anfangs ohne, dann mit Erfolg, persönlich unruhig. Am runden Tisch mit den Köpfen der großen Venturecapital-Fonds lerne ich die Logik der digitalen Disruption.
Aber ist die Disruption tatsächlich ein neues Phänomen, oder gab es sie nicht immer schon? Waren nicht Buddha, Jesus und Mohammed religiöse Disruptoren, Homer als Dichter und Beethoven als Komponist künstlerische? Gutenberg als Erfinder des Buchdrucks, Louis Daguerre als einer der Erfinder der Fotografie, Thomas Alva Edison als einer der Erfinder der Glühlampe, Carl Benz als Erfinder des Automobils technologische Disruptoren? Einstein als Begründer der Relativitätstheorie und Alexander Fleming als Entdecker des Penicillins wissenschaftliche? Waren nicht Marx und Lenin, Gandhi und Martin Luther King politische Disruptoren?
Ohne Frage waren sie alle Revolutionäre auf ihrem Gebiet, und sie alle haben den Weltlauf dauerhaft verändert. Doch Disruption ist etwas anderes als Revolution. Die Revolution errichtet eine neue Ordnung auf alten Fundamenten, zum Beispiel eine Kölner Kirche auf einem römischen Jupiter-Tempel oder die Republik Indien auf der britischen Kolonialverwaltung. Die Disruption hingegen stellt eine neue Ordnung auf neue Fundamente – und braucht dazu nicht einmal mehr die Trümmer der alten. Sie bricht mit der Vergangenheit. Napster, iTunes und Spotify bedeuten: Die Plattenläden wechseln nicht wie zuvor ihr Sortiment von Vinyl zu CD, sondern sie verschwinden.
So gesehen, bewirkte das Penicillin tatsächlich eine Disruption. Als die Tuberkulose Ende der 1940er-Jahre mithilfe von Tabletten heilbar war, verschwanden plötzlich alle Lungensanatorien, die sich nicht noch rechtzeitig zum Skihotel umfunktionieren ließen. Die Erfindung der Porträtfotografie hingegen brachte keine Disruption, weil sie die alten Porträtmaler nicht arbeitslos machte, sondern die meisten von ihnen einfach Fotografen wurden. Disruption bedeutet also, dass eine bisherige Berufsgruppe arbeitslos wird: Plattenverkäufer wie Vernon Subutex aus Virginie Despentes’ gleichnamigem Roman und Liegekuren-Personal wie aus Thomas Manns Zauberberg.
Kleinere Disruptionen, jedenfalls im Weltmaßstab kleinere, gab es sporadisch immer schon. Als man Erdöl zu fördern begann und daraus Petroleum herstellte, ging mit der Tran-Industrie der Walfang ein. Das Telefon machte die Botenjungen arbeitslos, die Glühlampe den Dochtmacher, Überseecontainer und Kran die Scheuerleute, die früher Waren per Hand auf Schiffen stapelten. Als japanische LCD-Uhren aufkamen, gingen zwei Drittel der Schweizer Uhrenmanufakturen pleite. Mit dem PC starb die Schreibmaschine, mit der digitalen Fotografie der Film.
Doch alle diese Disruptionen unterscheiden sich sowohl in ihrer Häufigkeit als auch in ihren ökonomischen und gesellschaftlichen Auswirkungen von der Disruptionsdichte unserer digitalen Gegenwart. Das hat technologische Gründe. Heute sind die Voraussetzungen für disruptive Innovationen beziehungsweise, wie die Bundesregierung sie nennt, »Sprunginnovationen« viel günstiger als noch in den Neunzigerjahren, als Christensen sie beschrieb. Sie finden auch häufiger statt. Denn die digitale Technologie hat die Schwelle zum Markttest dramatisch abgesenkt und verbilligt. Damit wiederum hat sie das disruptive Potenzial des digitalen Markteintritts exponentiell gesteigert.