Politische Philosophie des Gemeinsinns. Oskar Negt

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Название Politische Philosophie des Gemeinsinns
Автор произведения Oskar Negt
Жанр Афоризмы и цитаты
Серия
Издательство Афоризмы и цитаты
Год выпуска 0
isbn 9783958298217



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Geschichtsanschauung und ihre spezielle Anwendung auf den modernen Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie war nur möglich vermittelst der Dialektik. Und wenn die Schulmeister der deutschen Bourgeoisie die Erinnerung an die großen deutschen Philosophen und die von ihnen getragene Dialektik ertränkt haben im Sumpf eines öden Eklektizismus, so sehr, daß wir die moderne Naturwissenschaft anzurufen genötigt sind als Zeugen für die Bewährung der Dialektik in der Wirklichkeit – wir deutschen Sozialisten sind stolz darauf, daß wir abstammen nicht nur von Saint-Simon, Fourier und Owen, sondern auch von Kant, Fichte und Hegel.6

      Innerhalb der historischen und philosophischen Dimension, heißt es hier, sei das Denken und seien die Massen also derart korrumpiert, dass es den Naturwissenschaften obliege, die Gültigkeit der Dialektik festzustellen. In der Tat glaube ich, dass ein wesentliches Motiv für Engels Beschäftigung mit der Naturdialektik darin lag, dass weder den Massen noch den deutschen Intellektuellen klar zu machen war, die Dialektik sei etwas Vernünftiges, das der Mensch zum Denken vor allem in praktischer Absicht brauche. Es geht darum, den ohnehin von naturwissenschaftlichem Denken beeinflussten Massen nachzuweisen, dass die Dialektik ein universelles Gesetz ist, das mit der historischen Dimension unmittelbar nichts zu tun hat, welche ganz im Gegenteil nur einen Anwendungsfall darstellt, dass also die allgemeine Dialektik in Form der historischen Dialektik zum Ausdruck kommt. In diesem Augenblick glaubte Engels, die Dialektik gesichert zu haben, was durchgängig in seiner etwas feingliedrigen Analyse von der »Dialektik der Natur« zu spüren ist.

      Aber was genau ist gemeint, wenn Engels von einem Erbe und von Abstammung spricht? Diese Begriffe werden nicht zufällig gebraucht, es sind vielmehr Metaphern, die auch sonst bei Marx und Engels Verwendung finden, hier aber einen sehr wesentlichen Zusammenhang betreffen. Wie also ist es zu verstehen, dass die Arbeiterklasse die klassische Philosophie beerbe, dass wir von Kant, Fichte und Hegel abstammen? Ich will hier keine Spekulationen über den Erbschaftsbegriff anstellen wie Wilhelm Raimund Beyer in seinen »Hegelbildern«.7 Bei ihm findet man einen spekulativen Überhang, der sich mit den Worten »Erbe« und »Erbschaft« in allen Dimensionen und Möglichkeiten beschäftigt, aber zur Klärung der Sache kaum etwas beiträgt. Diese Begriffe sind Metaphern genauso wie jene von der Gewalt als Geburtshelfer einer neuen Gesellschaft oder das Bild von Muttermalen, mit denen jede neue Gesellschaft behaftet sei.8 Marx und Engels haben damit nur gemeint, dass hier eine ganz spezifische, wenn man so will, organische Beziehung zwischen der großen deutschen Philosophie und dem Proletariat bestehe. Demnach könne das Proletariat nur einbringen, was die große Philosophie wollte, was also deren revolutionärer Gehalt ist.

      Dennoch wäre es, wie bereits gesagt, eine falsche Projektion von unhistorischem Denken in die durchgängig historische Denkweise von Marx und Engels, wollte man behaupten, damit sei ein für alle Mal das spezifische Verhältnis zwischen dem Marxismus und der großen deutschen Philosophie festgelegt. Im Gegenteil: In welcher Weise sich dieses organische Verhältnis zwischen Philosophie und Proletariat unter den jeweilig gegebenen Bedingungen von Klassenkampf und Aneignung vergangener Realität abspielt, das musste und muss jede agierende geschichtlich auftretende Klasse neu bestimmen. Ein solcher Bestimmungsprozess fand auch statt als beispielsweise Georg Lukács (1885–1971) nachgewiesen wurde, dass er sich Marx nur über Hegel anzueignen vermochte, weshalb der sogenannte westliche Marxismus eine hegelianisierende Tendenz habe. Ich kann hier nicht weiter darauf eingehen, aber es wäre immerhin zu prüfen, ob bei der Entwicklung des Marxismus das Eindringen dialektischer Elemente eben tatsächlich durch eine Rückwendung von Marx auf Hegel möglich war.

      Eine aktuellere Neubestimmung des Verhältnisses zu großen deutschen Philosophen kreist um das »Ding an sich« bei Kant. Engels meinte Kant in dieser Hinsicht mit seinem Alizarin-Beispiel widerlegt zu haben: Nun, da der Mensch in der Lage sei, diesen Farbstoff selbst herzustellen, habe der Stoff seine Qualität als »Ding an sich« verloren.9 Die Menschen nehmen nur das als »Ding an sich« an, was sie noch nicht ergründet haben. Indem sie eine Sache herstellen, erkennen sie diese und das unbekannte Ding an sich verschwindet. Dieses von Engels ganz anders gemeinte Beispiel diente Generationen von Marxinterpreten dazu, die Kantische Philosophie mit dem vernichtenden Schlagwort des Agnostizismus zu belegen. Heute jedoch tritt im offiziellen Marxismus10 eine Wende ein. Nach wie vor ist das Ding an sich ein schwieriges Problem, doch ist man in gewisser Weise dazu übergegangen, die Kantische Theorie zu integrieren. Man kann nur einen Grund dafür annehmen, dass nämlich für diese Form des Marxismus alles, was jenseits des eigenen Aktionsspielraums liegt, eine Gefährdung darstellt.

      Grundsätzlich lassen sich zwei Arten der geschichtlichen Aneignung unterscheiden: auf der einen Seite die revolutionäre Aneignung von Geschichte mit ihrer ganz spezifischen Zeitstruktur, die mit einer Verdichtung des Zeitbegriffs verbunden ist, mit einem Aufsprengen des Zeitkontinuums; auf der anderen Seite eine restaurative, verdrängende Aneignung der Vergangenheit und vergangener Theorien. Für diese folgenreiche These will ich zwei Beispiele anführen. Das eine findet sich bei B. Traven (vermutlich 1882–1969) in der »Rebellion der Gehenkten« (1936), das zweite in den geschichtsphilosophischen Thesen von Walter Benjamin (1892–1940), die den Begriff der geschichtlichen Aneignung, der Neukonstitution von Geschichte begründen.

      Travens »Rebellion der Gehenkten« kann ich allgemein nur zur Lektüre empfehlen, weil es die Entwicklungslogik revolutionärer Bewegungen auf praktischer Ebene bis zum Endpunkt durchkonstruiert und dabei stets die jeweiligen Alternativen aufzeigt. Das Beispiel, das ich daraus entlehnen möchte, sei hier kurz eingeführt: Da wird eine Gruppe von Outlaws auf der Straße aufgegriffen und in den Urwald verschleppt, um dort eine bestimmte Holzart zu schlagen. Diese Leute fristen dort ein Dasein, das dazu angetan scheint, jede menschliche Regung zu vernichten. Entsprechend rührt sich auch lange nichts – bis eine eklatante Ungerechtigkeit passiert: Einem kleinen unschuldigen Jungen werden die Ohren abgeschnitten, woraufhin der Vater den dafür Verantwortlichen erschlägt. Das ist der Anfangspunkt einer Rebellion, denn dem Vater dämmert es sofort: Jetzt heißt es weitermachen oder vernichtet werden. Die Logik dieser Situation treibt die Arbeiter voran von einer Plantage zur anderen. Sie erschlagen die Herren, besetzen das Land, können es aber nicht halten, und der Führer der Rebellion sagt ein ums andere Mal: Wenn wir uns hier festsetzen, werden sie uns einkreisen und vernichten. Wir haben nur die Alternative, voranzugehen.11

      Ich will diese Erzählung nicht selbst weiter deuten, sondern einen anderen dafür bemühen. Robert Steigerwald interpretiert diese Stelle so:

      Die Rebellen im Kaobazyklus vernichten überall, wohin ihr Kampfweg führt, sämtliche Dokumente. […] Es geht um den rücksichtslosesten Bruch mit der alten Welt, mit der Welt des Eigentums, der Ausbeutung und Unterdrückung. Ist gemeint, was Marx und Engels im »Manifest der Kommunistischen Partei« schrieben: »Die kommunistische Revolution ist das radikalste Brechen mit den überlieferten Eigentumsverhältnissen; kein Wunder, daß in ihrem Entwicklungsgang am radikalsten mit den überlieferten Ideen gebrochen wird«? Marx und Engels spitzen hier das Problem der Revolution zu auf den Punkt des Zerreißens der historischen Kontinuität, und das ist ja auch das Entscheidende an der sozialistischen und kommunistischen Revolution. Freilich waren Marx und Engels Dialektiker, die genau um das Moment der Kontinuität in jedem Entwicklungsprozeß wußten.12

      Dem stimme ich zwar grundsätzlich zu, doch zeigt sich hier der Unterschied zwischen einer wirklichen Revolution und ihrer Interpretation: Hätten die Kaobabauern Zeit gehabt, ihre Situation zu interpretieren, das heißt historischen Materialismus anzuwenden, wäre es möglich gewesen, diese Vermittlungen mit einzubeziehen. Aber was Traven hier meint und Steigerwald meines Erachtens nicht erkennt, ist der grundlegende Unterschied zwischen der Bewusstlosigkeit, dem Unbewussten im Augenblick historischer Aktion und den zweifellos notwendigen theoretischen Vermittlungsprozessen, die diese Revolution und ihren geschichtlichen Gang interpretieren.

      Beide Ebenen auseinanderzuhalten, erscheint mir wesentlich, nicht weil die Kaobabauern recht hätten, sondern weil in der Tat ein Geschichtsbegriff da ist, ein Handlungsbegriff, ein Aktionsbegriff, der sich nur durch eine Nuance von jenem Geschichtsbegriff der Steigerwald’schen Interpretation unterscheidet, jedoch gewissermaßen substanziell ist. Von diesem Geschichtsbegriff aus muss man jene Vermittlungsmomente der Theorie mitinterpretieren, wenn nicht nur nachträglich die Vermittlung als die prädominante, gewissermaßen ontologisch bessere