Politische Philosophie des Gemeinsinns. Oskar Negt

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Название Politische Philosophie des Gemeinsinns
Автор произведения Oskar Negt
Жанр Афоризмы и цитаты
Серия
Издательство Афоризмы и цитаты
Год выпуска 0
isbn 9783958298217



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andere Projekte sind nur daran gescheitert, dass er schon 1871 den Krieg verlor. All diese Abenteuernaturen in der bürgerlichen Politik sind Exekutoren, und es wäre nicht nur die deutsche, sondern die exekutive Gewalt allgemein einmal auf Freibeutertum zu durchsuchen. In dem Sinne ist Richard Nixon (1913–1994) genauso ein Freibeuter gewesen, wie es teilweise Winston Churchill (1874–1965) war, und eine ganze Garde der bürgerlichen Exekutive hat sich der Personalstruktur nach auf eine Gewalt gestützt, die der gesellschaftlichen Grundlagen eigentlich nicht mehr entsprach.

      Die Judikative ist nun tatsächlich der bürgerliche Anteil an der Beschränkung dieser feudalen Gewalt. Die Gerichte sind jener Anteil allgemeiner Gewalt, gesetzlicher Gewalt, das heißt an Gesetze gebundener Gewalt, den sich das Bürgertum sichern wollte, während die Exekutive immer die Möglichkeit hat, mit Ausnahmegesetzen zu regieren. Auch in der Weimarer Republik bestand durch den Artikel 48 diese Möglichkeit permanent, und die Exekutive war bis heute nie eng auf allgemeine verpflichtende Gesetze begrenzt. Sie definiert sich vielmehr gerade durch ihre Möglichkeit, den Ausnahmezustand zu erklären. Im rechtlichen Bereich aber, in der zweiten Gewalt, hat das Bürgertum ein Stück seiner Macht gesehen. Ja, man kann sogar sagen, dass dieser Bereich auch das Hauptstück der Macht des Bürgertums geblieben ist, insofern als sich in der Durchsetzung der Gesetze, in der Gleichheit vor dem Gesetz, auch die Nebelregion der bürgerlichen Freiheit festgesetzt hat. Das ist gewissermaßen der Himmel des Bürgertums, aus dem die Freiheitsillusionen kommen – die Freiheit des Citoyen, als Rechtsperson Verträge abschließen zu können, die Versammlungsrechte, das öffentliche Recht der Diskussion des Citoyens und so weiter.

      In diesem Bereich hat sich ein substanzielles Selbstverständnis gebildet, während die Legislative, die dritte Gewalt, im gesamten Bürgertum bis heute ein Aschenputtel-Dasein fristet. Sie stand immer unter dem Druck der Erneuerung, weil sich Machtverhältnisse eingespielt hatten, die die Legislative immer auch zu einer bloß akklamativen Instanz reduziert haben. Es gibt so etwas wie eine permanente Abschaffung von Parlamenten in der bürgerlichen Geschichte, die gar nicht mehr auseinandergejagt werden müssen, weil sie längst keine Entscheidungen mehr treffen. Wie das heute noch funktioniert, beschreiben Peter Brückner und Johannes Agnoli in »Die Transformation der Demokratie« (1967). Die Autoren analysieren diesen Transformationsprozess des Parlaments zu Kernspitzen, zu Fraktionen hin, die mit der Exekutive zusammenarbeiten, sodass Parlamentsvorlagen größtenteils abgesichert sind und das Parlament nur akklamiert. Das hat damit zu tun, das werden wir in der späteren Analyse von Kant noch sehen, dass es im Bürgertum einen völlig zwiespältigen und zerfaserten Begriff des Volkes gibt. Was das Volk ist, hat das Bürgertum nie richtig definieren können und ist auch nicht einfach zu bestimmen. Dabei wäre festzulegen, erstens: wer dazu gehört, zweitens: was das Parlament macht und drittens: was es machen würde, wenn es nach eigenem Gutdünken verfahren könnte. Gleichzeitig gibt es eine Fetischisierung und eine Bedrohung durch das Volk. Diese Ambivalenz drückt sich in der Volksinstanz der Legislative aus, im legislativen Apparat, denn wer, wenn nicht das nach bestimmten Merkmalen definierte Volk, sollte darin sitzen? Wie Kant sich bemüht, festzustellen, wer eigentlich ein politischer Bürger ist, ob zum Beispiel der Friseur, der Lohnarbeiter oder ein Hausbediensteter, werden wir noch sehen. Tatsächlich hat er schon Schwierigkeiten, zu definieren, wen man eigentlich zur politischen Verantwortung zulassen kann. Das Volk in der transzendentalen Dimension ist für ihn eine feste Größe, und das kann er auch klar definieren, ob aber ein Friseur zum Volk gehört, das mitbestimmen soll, das ist für ihn ein fast unlösbares Problem. Daran, dass die Gesetzgebung vom Volke ausgehen muss, ist überhaupt nicht zu rütteln. Aber wer die Gesetze machen darf, ist nicht nur für die preußische Entwicklungsgeschichte, sondern für das Bürgertum insgesamt immer schwierig gewesen, zumal der Begriff des Volkes in bestimmten Perioden mit dem Pöbel und pauperisierenden Elementen verbunden war.

       Diskussion um die RAF

       Vorlesung vom 14. November 1974

       Zu Beginn dieser Veranstaltung, die ursprünglich erneut vom zwiespältigen Begriff des Volkes handeln sollte, fand auf Wunsch der Hörer zunächst eine studentische Diskussion um den Tod von Holger Meins (1941–1974) und die Ermordung des Richters Günter von Drenkmann (1910–1974) statt. Negt hatte den Studierenden Raum und Zeit dafür zugebilligt und ursprünglich vorgehabt, sich nicht selbst einzubringen. Statt nach dieser knapp halbstündigen Diskussion aber seine Vorlesung fortzusetzen, entschied er sich doch für den nachfolgenden Ad-hoc-Diskussionsbeitrag.

      Obwohl ich mich entschlossen hatte, mich nicht zu äußern, kann ich, was da gesagt worden ist, nicht unkommentiert lassen. Zum einen muss man zunächst einmal unterscheiden zwischen Forderungen, die die Arbeiterbewegung seit ihrer Entstehung erhoben hat, und jenen Forderungen, die im Konzept und in den Tatbeständen der RAF enthalten sind. Was die RAF will, hat für mich zunächst keinen irgendwie gearteten Traditionszusammenhang mit der europäischen Arbeiterbewegung, sondern einen ganz anderen Traditionszusammenhang, den, wie ich glaube, Rudi Dutschke (1940–1979) richtig bezeichnet hat.85 Es hat immer eine subversive Strömung innerhalb der Arbeiterbewegung gegeben mit ganz bestimmten inhaltlichen Einschätzungen des Systems.

      Ich glaube, man kann einfach nicht umhin, zu fragen, welche Einstellungen und welche Einschätzungen die RAF in Bezug auf das gegenwärtige kapitalistische System hat und wie sie es analysiert. Das wäre allenfalls zu ignorieren, wenn man diese Gruppe auf der Ebene der Psychologie betrachtet. Nimmt man aber ernst, was sie erklärt und analysiert, dann muss man sie an den Maßstäben messen, die sie sich selbst gesetzt hat.

      Die Arbeiterbewegung, soweit sie nicht eine völlig isolierte, sektiererische Gruppe repräsentiert hat, hat immer ein spezifisches Verhältnis zu bürgerlichen und republikanischen Freiheiten gehabt. Es ist der Arbeiterbewegung nie eingefallen, zu meinen, man könnte diese Freiheiten schlicht ignorieren und zerstören, ohne an deren Stelle eine andere Gesellschaft zu setzen. Das heißt es ging immer um die Aufhebung der bürgerlichen Freiheit, Aufhebung im Sinne von Überflüssigwerden begrenzter Freiheiten, aber immer auch um das Einbringen dieser begrenzten Freiheit in ein umfassenderes System von Freiheit und Menschenwürde. Es gibt also ein spezifisches Verhältnis der Arbeiterbewegung zu den Bedingungen, unter denen sie selbst zu agieren gezwungen ist. Die Verteidigung republikanischer, demokratischer Freiheiten, soweit sie überhaupt da sind, ist einer der Grundbestandteile der Arbeiterbewegung gewesen, und es wäre niemandem, das gilt für die kommunistische Arbeiterbewegung genauso wie für die sozialdemokratische, in den Sinn gekommen, den Ast abzusägen, auf dem man sitzt. Das hat eine spezifische Folge: Nicht erst die RAF sitzt in den Gefängnissen. Es hat während der Illegalisierung der Sozialdemokratie und während der Weimarer Republik eine Vielzahl von Kommunisten in Gefängnissen gesessen, es hat auch eine Vielzahl von Kommunisten und Linkssozialisten nach 1945 in den Gefängnissen gesessen. Aber was haben die in den Gefängnissen gemacht? Die haben unter anderem versucht, aufzuarbeiten, warum diese und jene Schritte gescheitert sind und scheitern mussten. Die haben versucht, Erfahrungen aufzuarbeiten unter den Bedingungen, unter denen sie standen, und die Bedingungen in Gefängnissen der Weimarer Republik waren nicht besser, sondern wesentlich schlechter als heute. Das liegt also nicht etwa an der Qualität von Gefängnissen, ob man Erfahrungen aufarbeitet oder nicht, ob man bestimmte Strategien verarbeitet oder sie einfach ignoriert.

      Zwei Leute gibt es, die – etwas hilflos zwar – versuchen, diesen Prozess in den Gefängnissen anzustoßen. Das sind Horst Mahler (1936) und Jan-Carl Raspe (1944–1977), für die immerhin die Gefängniszelle keine Monade, sondern eine eigene Erfahrung ist, eine des Scheiterns. Man macht wirkliche Erfahrungen im politischen Leben nur am Scheitern, nicht an den Erfolgen. Das bedeutet, dass diese Erfahrungen bei den RAF-Leuten zum größten Teil nicht gemacht, sondern blockiert werden.

      Und zweitens, ein Protest, der sich auf eine breitere Basis innerhalb einer linken, ja sogar der liberalen Öffentlichkeit stellt gegen Zustände in Gefängnissen, dieser Protest berührt nicht eine einzelne Gruppe – das möchte ich hier festhalten –, sondern der berührt jeden, der im Gefängnis sitzt. Ein überführter Mörder hat dasselbe Recht wie jeder andere. Das gilt für die Untersuchungshaft wie für andere Haftsituationen, solange man diese Gefängnisse hat, die mal einen Fortschritt dargestellt haben gegenüber den schlichten Leibesstrafen