Название | Leben ohne Maske |
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Автор произведения | Knut Wagner |
Жанр | Биографии и Мемуары |
Серия | |
Издательство | Биографии и Мемуары |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783957163080 |
Wolfgangs Versuch, die Widrigkeiten des Alltags herunterzuspielen, schlugen fehl. Heidi hörte nicht auf, die untragbaren Zustände zu beklagen. „Wenn du denkst, jetzt könntest du den Kleinen baden, ist plötzlich das Wasser weg, und wenn du denkst, jetzt könntest du einkaufen gehen, hat der Konsum, die einzige Verkaufsstelle im Dorf, garantiert geschlossen, und da merkst du, wohin es dich eigentlich verschlagen hat“, sagte sie. „Und wenn ich daran denke, dass es in Oberneusitz keine Kinderkrippe und keinen Kindergarten gibt und alles so weitergehen soll wie jetzt, könnte ich mir den Strick nehmen.“
Sechs Jahre lang nur auf den Haushalt und das Kind festgelegt zu sein und im Höchstfall sechs Stunden Unterricht in der Woche geben zu können, hielt Heidi für unzumutbar, und auch für Wolfgang wurde die schulische Situation in diesem zweiten Jahr Oberneusitz immer prekärer.
Als der Direktor einen Ersatz für Heidi gefunden hatte und es dadurch plötzlich zu einem Lehrerüberhang im Fach Deutsch kam, erwog Sandruschek ernsthaft, aus Wolfgang einen Hauptsportlehrer zu machen. Dass Wolfgang andere Ambitionen hatte, schien den Direktor nicht zu interessieren. Gemeinsam mit dem Kreisturnrat, der extra aus Erfurt angereist war, versuchte Sandruschek vergeblich, Wolfgang auf den gewünschten Kurs zu bringen.
Wolfgang sagte, dass er zwar das Fußballtraining der Schulmannschaft leiten könne, aber sonst sportlich eine Null sei. „Von daher eigne ich mich keinesfalls zum Hauptsportlehrer“, meinte er, und Sandruschek und der Kreisturnrat waren mächtig sauer, weil Wolfgang den bereits vorbereiteten Qualifizierungsvertrag nicht unterschrieb.
„Ich habe Deutsch und Geschichte studiert. Und das habe ich aus gutem Grund getan“, sagte er. „Und da möchte ich schon fachgerecht eingesetzt werden.“
Falls mal ein Lehrer, der Sport gebe, ausfalle, würde er natürlich einspringen, erklärte er noch bereitwillig. Aber das genügte Sandruschek nicht.
Mit so viel Sturheit habe er nicht gerechnet, sagte der Direktor verärgert. Der Kreisturnrat zeigte sich äußerst enttäuscht darüber, dass ein junger Lehrer nicht bereit sei, den Gegebenheiten einer kleinen Landschule Rechnung zu tragen. „Sportunterricht kann jeder junge Lehrer geben, ob er nun ein Ass im Turnen war oder nicht“, meinte er. Das sei nur eine Frage der Einstellung.
„Ich denke, dass das nicht das letzte Gespräch über Ihre Perspektive an dieser Schule gewesen sein wird“, sagte der Kreisturnrat, als er sich von Wolfgang verabschiedete.
Sport statt Stückeschreiben kam für Wolfgang nicht in Frage, und er widersetzte sich vehement Sandruscheks Plan, aus ihm einen Hauptsportlehrer zu machen. Immer häufiger lehnte er sich in den Dienstbesprechungen über Sandruschek und seinen autoritären, selbstherrlichen Leitungsstil auf.
Aber eine Anweisung Sandruscheks hatte Wolfgang strikt zu befolgen: Er musste an jeder Gemeinderatssitzung in Oberneusitz teilnehmen und die Belange der Schule vertreten, was höchst selten nötig war. Auch hatte Wolfgang dem Direktor über jeden Besuch des Gemeinderates kurz zu berichten. Denn Sandruschek wollte unbedingt wissen, wie der Gemeinderat tickte, um für die Schule das Maximale an kommunaler Unterstützung herausholen zu können.
So besuchte Wolfgang auf Geheiß von Sandruschek seit einem Jahr die Gemeinderatssitzungen, und wenn es nicht so traurig gewesen wäre, hätte man laut loslachen können. Denn jedes Mal wurde sich fürchterlich über dieselben Dinge gestritten, und jedes Mal, egal, was auf der Tagesordnung stand, meldete sich der Feuerwehrhauptmann Bartsch zu Wort und forderte, was er immer forderte: eine Kleiderkammer für die Freiwillige Feuerwehr das Dorfes.
„Kameraden“, rief er, als gehe es in eine Schlacht. Der Bürgermeister versuchte jedes Mal, die allbekannten, wortreichen Angriffe des Feuerwehrhauptmanns abzuwehren, indem er mit seinen großen, klobigen Händen ratlos in der Luft herumfuchtelte. Es gäbe keinen Raum in der Gemeinde, den er der Feuerwehr zur Verfügung stellen könne. Und das Jugendzimmer, auf das Bartsch spekuliere, sei tabu.
Dass das Jugendzimmer nur zum Hören lauter Musik und zum heimlichen Saufen benutzt würde, wies der Bürgermeister zurück. In der sozialistischen Gesellschaft müsse sich die Jugend frei entfalten können, erklärte Zimmermann kategorisch, und alles lachte.
Die ständigen Querelen zwischen Bartsch und Zimmermann, die sich unheimlich lange hinziehen konnten und jegliche Tagesordnung sprengten, fand Wolfgang unerträglich. Aber noch unerträglicher fand er es, dass Sandruschek ihn zum Hauptorganisator eines Sportfestes am „Tag der Republik“ verdonnert hatte, für das er die Jugendlichen und Erwachsenen des ganzen Dorfes begeistern sollte.
Nachdem Wolfgang im Gemeinderat erläutert hatte, dass es sich bei diesem Sportfest um einen Fernwettkampf zwischen allen Landgemeinden republikweit handle, an dem möglichst viele Erwachsene jeglichen Alters teilnehmen sollten, sahen sich alle Gemeindevertreter etwas erstaunt an.
Hocke, der LPG-Vorsitzende, sagte süffisant: „Ich weiß nicht, ob die Frauen, die im Schweinestall arbeiten und um die fünfzig sind, ein großes Interesse am Weitsprung oder am 100-Meter-Lauf haben.“ Alles lachte.
„Aber Kugelstoßen, das müsste doch gehen“, sagte der Vorsitzende der BSG Traktor Oberneusitz. Er zeigte sich aufgeschlossen gegenüber den Fernwettkämpfen der Landgemeinden und versprach hoch und heilig, dass alle Fußballer sich daran beteiligen würden.
Das zeige, dass die Sportler der Betriebssportgemeinschaft den Staatsratsbeschluss über Körperkultur und Sport richtig verstanden hätten, meinte der Bürgermeister. Er sagte Wolfgang seine volle Unterstützung zu und hoffte auf eine große Beteiligung am Sportfest.
Nach der Gemeinderatssitzung setzte sich Wolfgang noch ein bisschen an den Tisch zu dem Vereinsvorsitzenden der BSG Traktor, dem LPG-Vorsitzenden, dem Bürgermeister und dem stumpenpaffenden Feuerwehrhauptmann, die an diesem Abend nur ein Ziel hatten: sich gegenseitig unter den Tisch zu saufen.
Als Wolfgang Stunden später die schmale Korridortreppe hoch polterte, merkte er, wie betrunken er war. Bevor er sich ins Bett neben Heidi legte, holte er aus der Küche einen Eimer und stellte ihn neben sein Bett. Durch Wolfgangs lautes Hantieren wurde Heidi wach, und es dauerte nicht lange, und Wolfgang musste sich übergeben.
Henry fing zu weinen an, und Heidi sagte erbost: „Eine Zumutung ist das!“, und wechselte mit Henry vom gelben in den blauen Salon.
„Hilf mir doch“, rief Wolfgang mit dem Kopf überm Eimer. Aber Heidi reagierte nicht. Am „Tok Tok“ hörte sie, dass der alte Sickel aus der Kneipe kam, und sie hörte, wie sich Wolfgang im Nebenzimmer erbrach und nach ihr rief.
Henry lag neben ihr auf der blauen Ausziehcouch unter der Schräge, und Heidi steckte ihm den Nuckel in den Mund, um ihn zu beruhigen.
Wolfgang, im Zimmer nebenan, hing mit dem Kopf über dem Eimer. „Ich kann nicht mehr“, sagte er wehleidig. „Hilf mir doch!“ Er hörte, wie eine der ungezählten Mausefallen, die er auf dem Korridor aufgestellt hatte, zuschnappte, und er hörte, wie der alte Sickel seine Krücken unüberhörbar laut auf dem Pflaster aufsetzte. Der Beckmann aus „Draußen vor der Tür“ geisterte durch Wolfgangs versoffenes Gehirn, und jedes Mal, wenn er das Geräusch der Krücken auf dem Pflaster vorm Haus hörte, lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Es war ein Gefühl der Ohnmacht und der Angst, einer Maschinerie ausgesetzt zu sein, die den Menschen deformiert.
Am nächsten Morgen stand Wolfgang vor dem Spiegel, der über dem Waschbecken in der Küche hing. Brechreiz schüttelte ihn, und er unterbrach das Rasieren.
Heidi, die grußlos hereingekommen war, stand vorm Gaskocher und machte in einem Emailletopf Henrys Flasche warm.
„Saufen und kotzen – das ist alles, was du kannst“, sagte sie und probierte, ob Henrys Baby-Milch warm genug war.
„Nicht zum Aushalten ist das“, Heidi verließ angewidert die Küche, und Wolfgang, der mit Sandruschek im Clinch