Baltrumer Bitter. Ulrike Barow

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Название Baltrumer Bitter
Автор произведения Ulrike Barow
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839264980



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Kevin schüttelte trotzig den Kopf.

      »Ich will lieber mit dir auf die Schaukel«, maulte er und rammte mit seinem roten Minibagger den rechten großen Zeh seines Vaters.

      Margot nutzte den allgemeinen Aufruhr. »Ich muss los«, rief sie winkend zurück. »Kannst ja nachkommen.«

      Sie zog ihre Sandalen aus und lief durch den warmen Sand bis zum DLRG-Wachturm. Die Männer und Frauen in den orangefarbenen T-Shirts der Wasserwacht hatten es sich gemütlich gemacht, ihre Baywatch-Bojen steckten neben ihnen im Sand. Die Badeflagge war bereits eingeholt worden, die offizielle Badezeit also eigentlich vorbei, aber das störte sie nicht. Genügend Wasser umspielte die Stangen, die den Badebereich eingrenzten.

      Sie legte ihre Sachen neben eines der großen Räder, auf denen der hölzerne weiße Turm ruhte. Plötzlich sah sie aus den Augenwinkeln etwas Rundes, Rotes auf sich zukommen, spürte einen Luftzug. Ein Ball flog knapp an ihrem Kopf vorbei. Ein kleines Mädchen lief hinterher, schaute sie um Entschuldigung bittend an.

      Der Strand war voll von Menschen in allen Größen und Breiten, angetan mit mehr oder weniger geschmackvollen Badeklamotten. Eine eindeutige Modelinie konnte sie nicht ausmachen, doch ein Trend war eindeutig: je breiter der Mensch, desto bunter und manchmal auch knapper das Tuch. Jeder Strandkorb war besetzt, und an der Wasserkante waren unzählige Strandmuscheln in allen Farben aufgestellt. Sie liebte das bunte Strandleben des Sommers, die Unbeschwertheit der Urlauber und die Wärme des Sandes. Aber ebenso die ruhige Herbstzeit und den Winter, wenn die Stürme über den weiten Sand fegten und Milliarden von Sandkörnern vor sich herschoben. Jede Jahreszeit hatte ihr eigenes Gesicht. Und im Sommer gehörte es einfach dazu, dass mal ein Ball vorbeigeflogen kam.

      Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend überwand sie das große Muschelfeld, dann gab es kein Hindernis mehr. Voller Wohlbehagen ließ sie sich in das warme Wasser fallen.

      *

      Arnold Steenken schaute auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde, dann war Feierabend für heute. Zumindest im Büro. Zu Hause warteten Hilda und Margot, und seine Frau hatte meist noch den einen oder anderen Auftrag für ihn. In einer Pension war immer irgendwas zu tun. Bis jetzt war der Tag ruhig verlaufen. Sein Kollege lag mit einer Sommergrippe im Bett, so musste er sich dessen Kommentare zum Weltgeschehen seit ein paar Tagen nicht mehr anhören. Sie saßen zwar in getrennten Zimmern, doch die Bürotüren waren häufig geöffnet. Daher bekam er einiges mit, was sich nebenan tat. Er hatte gedacht, er hätte sich in all den Jahren an Georgs Sprüche gewöhnt. Aber jetzt merkte er, wie angenehm die Arbeit ohne das Gerede aus dem Nebenzimmer war.

      Trotzdem verstand er sich ganz gut mit Georg. Sie konnten sich aufeinander verlassen. So war Georg immer einer der Ersten, die seine neuen Schnapskreationen probieren mussten. Natürlich erst nach Feierabend.

      Noch eine Viertelstunde. Er stand auf. Die Begonie schrie förmlich nach Wasser. Er füllte die lila Plastikgießkanne, die er vor zwei Jahrzehnten von seinem Vorgänger übernommen hatte, zur Hälfte. Ganz ging nicht, seit sie mit der harten, spitzen Ecke eines Akten­ordners Bekanntschaft gemacht hatte, der aus dem obersten Regal gefallen war. Zum Glück hatte es nur die Kanne erwischt.

      Er schaute aus dem Fenster. Vor der Backstube war nichts los. Waren wohl alle am Strand. Erst am späten Nachmittag, wenn es auf die Abendessenzeit zuging, würden sich die Supermärkte wieder füllen.

      »Mist!« Arnolds Hand zuckte zurück. Die Begonie stand unter Wasser, ein kleines Rinnsal lief bereits über die Fensterbank. Er riss die Kanne zur Seite, und das restliche Wasser schwappte auf den Drucker, der mit seinem modernen Design einen erstaunlichen Kontrast zu dem Schreibtisch bildete auf dem die Jahre ihre Spuren hinterlassen hatten.

      Die rasch ausufernde Pfütze auf der Fensterbank kannte keinen Halt mehr. Immer schneller tropfte das Wasser über den Rand der Plastikbank zielgenau in seinen Rucksack, der mit geöffnetem Reißverschluss auf den Feierabend wartete. Wütend trat Arnold ihn aus der Gefahrenzone. Um die Briefe zu retten, die ihm seine Frau am Morgen für die Post mitgegeben hatte, kam der Tritt gerade rechtzeitig. Allerdings mit dem Ergebnis, dass sich der gesamte Inhalt des grün-blauen Rucksacks unter seinem Schreibtisch ausbreitete. Seine rote Frühstücksdose machte es sich zwischen den Briefen und zwei Tomaten bequem. Die Flasche Orangensaft gluckerte unter Protest zwischen seinem Fahrradschlüssel und einem angebissenen Schokoriegel hin und her.

      Arnold Steenken ließ sich auf seinen Drehstuhl sinken und legte den Kopf auf die Arbeitsplatte. Exakt in diesem Moment klopfte es leise und Thea Holle, Sekretärin des Bürgermeisters, steckte ihr Gesicht zur Tür herein.

      »Hallo, Arnold, der Chef möchte dich sprechen.«

      Er stöhnte, dann nickte er ergeben. Was blieb ihm anderes übrig.

      Thea Holle stand immer noch am gleichen Fleck und musterte ihn spöttisch. »Ganz schön warm heute, nicht?«

      Sein Oberhemd klebte durchgeschwitzt an seiner Haut. Der Wunsch, nicht hier, sondern in seinem kühlen Keller zu sitzen, wurde übermächtig. »Wenn der Herr Bürgermeister möchte, bitteschön, ich komme.«

      Er folgte Thea Holle über den Flur und stand kurz dar­auf im Zimmer seines Chefs. »Hallo, Enno, was gibt’s?«

      »Setz dich eben«, sagte der Mann mit der Stirnglatze auf der anderen Seite des großen Eichenschreibtisches. Seine Äuglein waren in dem dicken Gesicht fast nicht zu sehen.

      Für einen Moment stand Arnold die Gestalt des Bürgermeisters in dessen erstem Wahljahr vor Augen. Damals hatte man ihn noch vorzeigbar nennen können. Nicht nur der weibliche Teil der Insulaner hatte damals Worte wie »charmant« und »gesellschaftsfähig« gefunden, und die eine oder andere hatte ihn wohl auch »gut aussehend« genannt. »Der Typ macht was her«, war der allgemeine Tenor gewesen. Enno Lohmann hatte es damals geschafft, mit überzeugenden, mitreißenden Auftritten die Insulaner für sich einzunehmen. Sie fühlten sich von ihm verstanden. »Den Weg gemeinsam gehen«, war sein Motto gewesen, und die Menschen hatten ihn gewählt.

      Nichts davon war geblieben. Die Worte des Bürgermeisterkandidaten hatten sich als hohles Geschwätz erwiesen. Die Insulaner hatten erkennen müssen, dass das einzige Interesse dieses Mannes seiner eigenen Person galt. Allerdings schlug sich diese Einstellung in keiner Weise in seiner äußeren Erscheinung nieder. Lohmanns ehemals blondes, gepflegtes Haar war einem schütteren fettig-grauen Halbkranz gewichen. Er hatte so viele Kilo zugenommen, dass er sich wie eine wandelnde Tonne ausnahm.

      »Sag mal, ich habe gehört, ihr habt euch neulich getroffen und wollt eine eigene Partei gründen?«

      Das konnte nicht wahr sein! Wer hatte das schon wieder rumgetratscht? Sie hatten beschlossen, nichts davon an die Öffentlichkeit dringen zu lassen, bis die Sache in trockenen Tüchern war. Das fing ja gut an. Er hätte seinen Vorgesetzten jetzt darauf hinweisen können, dass eine Wählergemeinschaft rechtlich gesehen keine Partei war, aber das hätte der sowieso nicht kapiert.

      »Woher hast du diese Information?«, fragte er ruhig.

      »Stimmt’s oder stimmt’s nicht?«, blaffte der Bürgermeister.

      »Entschuldige bitte, aber ich glaube, dass ich darüber jetzt nicht reden möchte. Falls sich etwas tut in der Hinsicht, werden wir natürlich rechtzeitig vor den Wahlen damit an die Öffentlichkeit gehen. Ich sage: falls!«

      Enno Lohmann war aufgestanden und stützte sich schwer atmend auf seinem Schreibtisch ab. »Ich will dir mal was sagen: Überleg dir gut, ob es klug ist, den etablierten Parteien mit deiner Wünschelrutentruppe – du weißt, was ich meine: Such ich hier mal was zu meckern, such ich da mal was zu meckern – die Wähler wegzunehmen. Denn genau diese Parteien haben jahrelang dafür gesorgt, dass dein Arbeitsplatz erhalten bleibt, vergiss das nicht.«

      Arnold schnappte nach Luft. Was hatten die Parteien mit seinem Arbeitsplatz zu tun? Solch einen Blödsinn hatte er noch nie gehört. Außerdem: Nach fünfundzwanzigjähriger Betriebszugehörigkeit stand ein Rauswurf überhaupt nicht zur Debatte, zumal er Mitglied des Betriebsrates war. »Also ehrlich, Enno. So geht das nicht. Du willst mir doch nicht drohen, oder? Glaubst du wahrhaftig, ich würde mich davon beeindrucken lassen?« Arnolds Stimme