Kurz und schmerzlos. Peter Gerdes

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Название Kurz und schmerzlos
Автор произведения Peter Gerdes
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839264461



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den Innenausbau hochzogen. Alle vier benutzten dabei Nagelgeräte, sogenannte Druckluftnagler, pistolenähnliche Dinger, mit denen sie einfach per Fingerdruck eiserne Stifte in rasender Geschwindigkeit beliebig tief in jede Art von Holz treiben konnten. Und das taten sie ausgiebig. So ausgiebig, dass Stahnke, der sich eingebildet hatte, von Berufs wegen schussfest zu sein, kurz davor war, den Verstand zu verlieren. Denn jeder Nagelvorgang war mit einer heftigen Detonation verbunden.

      Er blickte zur Uhr. Schon kurz vor halb zehn, gleich würde die Ballerei wieder losgehen. Vielleicht sollte er einen Spaziergang einlegen. Oder eine Radtour. Irgendwas, bloß eine Weile weg von dieser Knallerei.

      Auf der Einfahrt quietschte ein Fahrrad. Etwa schon die Post? Ach nein, Gaby. Stahnke konnte ihre schwarze Mähne gerade noch hinter der Hecke verschwinden sehen. Wie jeden Tag hatte sie Kevin das Frühstück gebracht. Gegen halb zwölf würde sie noch einmal auftauschen, das hatte Stahnke schon spitzgekriegt, und ihrem Kevin den Ostfriesischen Kurier bringen, die Lokalzeitung aus Norden, die sie sich extra mit der Post schicken ließ, denn Kevin war gebürtiger Norder und hing an seiner Heimatstadt. Die Ostfriesen-Zeitung, die man in Leer las, war für ihn kein Ersatz.

      Wirklich praktisch, wenn das eigene Haus samt Ehefrau nur zwei Straßen weit weg vom aktuellen Arbeitsplatz lag und man sich dermaßen bedienen lassen konnte. Obwohl – was waren das für Kerle, die nicht einmal in der Lage waren, sich die eigenen Stullen zu schmieren?

      Als der Hauptkommissar seine Küche betrat, lief er direkt in ein Sperrfeuer stummer Blicke aus vier Augenpaaren hinein. Bleiernes Schweigen lag über einem Stillleben, das komponiert war aus fleckigen Bechern, Teerändern und Krümeln auf der hölzernen Tischplatte, leeren Tupperdosen, zerknüllten Butterbrotpapieren und vier Menschen mit geröteten Wangen. Stahnke räusperte sich. Das hier sah nach mühsam unterdrücktem Krach aus. Etwas, das er auf seiner Baustelle überhaupt nicht gebrauchen konnte.

      Der schöne Kevin begann zu pfeifen. Es klang wie Paint it black, eine alte Stones-Nummer, die gerade durch einen Werbespot mal wieder populär geworden war. Mit provozierend gespitztem Mund verschränkte Kevin die Arme. Die Gesichter der beiden anderen Männer verfinsterten sich noch weiter. Annika schlug die Augen nieder.

      Stahnke klatschte in die Hände und blickte betont frohgemut in die Runde. »Na, alles klar? Darf ich den Herren noch etwas bringen? Oder der Dame?«

      Die vier Dachdecker erhoben sich wortlos.

      Die Sache mit der Fahrradtour war wohl doch keine schlechte Idee, fand Stahnke.

      Als er gegen Mittag zurückkehrte, sonnendurchglüht und ausgepumpt, standen nicht nur der Biernoth-Bulli und die Wagen der Bauarbeiter vor seinem Grundstück, sondern auch ein Streifenwagen der Polizei. Außerdem ein unauffälliges Zivilauto, das ihm wohlbekannt war, und ein Leichenwagen. Vor der Panzersperre im Garten stand sein Kollege Kramer, flankiert von zwei Uniformierten. Oben auf dem Balkenhaufen lag der schöne Kevin. Die Reihe kleiner roter Flecken, die über die gesamte Breite seiner Stirn verlief, nahm sich aus wie eine exotische, wenn auch etwas einfallslose Tätowierung. Seinem guten Aussehen tat sie kaum Abbruch. Das tat schon eher die Tatsache, dass der schöne Kevin tot war.

      »Etwa zwanzig Stahlstifte hat er im Hirn«, sagte Kramer, nachdem der Tote abtransportiert worden war und sich die beiden Kriminalbeamten auf der Terrasse niedergelassen hatten. »Welcher davon der tödliche war, wird die Obduktion erweisen.«

      Wieder einmal musste Stahnke das Gefühl unterdrücken, veräppelt zu werden. Kramer hatte nicht etwa einen schlechten Witz gemacht, Kramer war eben so. Unglaublich effizient und mörderisch humorlos.

      »Die Stahlstifte entstammen einem Druckluftnagler«, fuhr Kramer fort. »Vermutlich einem Gerät der Marke Haubold, denn alle Arbeiter hier auf der Baustelle tragen baugleiche Geräte dieses Typs, auch der Tote.« Bei der Nennung des Fabrikats verzog Kramer keine Miene.

      »Fundort gleich Tatort?«

      Kramer nickte: »Davon ist auszugehen, sagen die Kollegen von der Spurensicherung. Keinerlei Hinweis auf einen Transport.«

      »Kann man feststellen, aus welchem, äh, Nagler genau die Projektile stammen?«, fragte Stahnke weiter. Geschosse aus Gewehren oder Pistolen waren ziemlich genau zu identifizieren, weil die Läufe der Waffen sogenannte Züge aufwiesen, die den Kugeln den nötigen Drall verliehen und ihnen dabei zugleich eine Markierung verpassten, die so individuell war wie ein Fingerabdruck.

      Kramer schüttelte den Kopf. »Keine Chance. Jedenfalls hat noch keiner ein entsprechendes Verfahren für diese Nagler entwickelt. Es gibt zwar unterschiedliche Nagelgrößen, aber ansonsten keine speziellen Kennzeichen. Einer ist wie der andere.«

      »Einer wie der andere«, sinnierte Stahnke, »und das zwanzigmal. Einer neben dem anderen. Wie lange dauert das eigentlich, einem zwanzig Nägel durch die Stirn ins Hirn zu knallen?«

      »Kommt drauf an«, sagte Kramer, der natürlich wieder umfassend informiert war. »Man kann diese Dinger auf Dauerfeuer stellen, wie Sturmgewehre oder Maschinenpistolen. Dann hauen die zwanzig Schuss in einer Sekunde raus. Und so, wie die Treffer sitzen, sieht mir das ganz danach aus. Die Durchschlagskraft war vermutlich auf Maximum eingestellt. Eine kurze Bewegung aus dem Handgelenk, und schon ist das Lochmuster gestanzt.«

      »Maximale Durchschlagskraft.« Stahnke schauderte. »Braucht man für derart gefährliche Werkzeuge eigentlich eine Sondergenehmigung?«

      Kramer schüttelte den Kopf. »Nein, braucht man nicht. Ebenso wenig wie für Hammer, Kreissäge, Axt und Schlagbohrer. Die können auch allesamt tödlich sein.«

      »Na schön, so viel zum mutmaßlichen Tathergang«, sagte Stahnke. »Wer aber war nun der Täter?«

      Der dicke Harms, der freundliche Marco und die sommersprossige Annika saßen um den immer noch teefleckigen und vollgekrümelten Küchentisch herum, als hätten sie ihre Frühstückspause niemals unterbrochen. Nur dass der Stuhl zwischen Marco und Annika jetzt leer war. Dafür stand Polizeihauptmeister Rieken mit verschränkten Armen und ausdruckslosem Gesicht neben der Spüle.

      Kramer bat die Handwerker einen nach dem anderen heraus auf die Terrasse.

      Gefunden hätten sie den Toten quasi gemeinsam, sagten alle drei übereinstimmend aus, nachdem Harms mehrmals vergeblich nach Kevin gerufen und dann alle nachschauen geschickt hatte. Beobachtet haben wollte keiner die Tat. Begangen natürlich erst recht nicht.

      So weit die Gemeinsamkeiten in den Aussagen. Interessanter aber waren die abweichenden Informationen.

      »Marco war neidisch auf Kevin«, sagte Annika. »Biernoth wollte Kevin zum Kolonnenführer machen. Auf diesen Posten hat Marco seit Jahren hingearbeitet. Klar, dass er blind vor Hass war, als heute früh die Nachricht kam.«

      »Harms hatte Stress mit Kevin«, sagte Marco. »Kevin hat ihm heute Morgen unterstellt, er würde Baumaterial unterschlagen und verschieben. Wollte angeblich Biernoth umgehend davon berichten. Harms ist nur Juniorpartner, der wäre ruckzuck draußen gewesen aus der Firma.«

      »Kevin hat Annika bedrängt«, sagte Harms. »Wollte dauernd was von ihr, dabei ist er verheiratet, und Annika hat einen festen Freund, der allerdings nur am Wochenende hier ist. Annika hat ihn gewarnt, aber Kevin ist so ein Typ, der kein Nein akzeptiert, jedenfalls nicht von einer Frau.«

      »Na super«, schnaubte Stahnke, als er wieder mit Kramer alleine war. »Drei Motive, eins schöner als das andere. Warum gibt es denn nicht mal ein Motiv, so ein richtig fettes, ein sonnenklares, allein auf weiter Flur? Aber nein, es müssen ja gleich drei sein.«

      Kramer zuckte die Achseln. Harte Fakten wurden davon, dass man sie beklagte, auch nicht weicher.

      »Drei Motive«, murmelte Stahnke.

      Welches wog am schwersten?

      *

      Vom Treppenabsatz her wirkte Stahnkes neues Dach wie die Innenansicht eines Wal-Skeletts. Teilweise jedenfalls. Konnte man an vielen Stellen zwischen den rippenartigen Balken hindurch noch den blauen Himmel sehen, so verstellten anderswo bereits senkrechte Streben, Türrahmen und Wände den Blick. Das Obergeschoss war im Werden begriffen,