Mörder kennen keine Grenzen. Horst Bosetzky

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Название Mörder kennen keine Grenzen
Автор произведения Horst Bosetzky
Жанр Зарубежные детективы
Серия
Издательство Зарубежные детективы
Год выпуска 0
isbn 9783745205954



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Bildung der Montan-Union in Luxemburg – worauf wollte Ziegenhals hinaus?

      „Ein Freund von mir studiert Soziologie“, begann Ziegenhals erneut und zündete sich eine Gauloise an. Umständlich ließ er die Streichholzschachtel in seinem schäbigen Jackett verschwinden und warf das Streichholz neben den Aschenbecher auf den Tisch. Es rauchte noch einige Sekunden. Typisch, dachte ich. Draußen hämmerte Beate auf ihre Schreibmaschine ein. Eine wärmebedürftige Mücke zwängte sich ins Zimmer und umschwirrte Ziegenhals. Er griff sie mit seiner linken Hand, zerdrückte sie und wischte sie am Hosenbein ab.

      „Sie nicht?“, fragte ich ziemlich ratlos.

      „Nein, seit einiger Zeit nicht mehr ... Aber gelegentlich helfe ich einem Freund von mir ...“

      Er stotterte keineswegs, er sprach nur etwas schleppend. Seine blassblauen Augen blickten glanzlos und traurig.

      „Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll ...“, murmelte Ziegenhals.

      Mein Gott, was wollte denn dieser verklemmte Mensch bei mir? Ich war schon versucht, ihn einfach hinauszuwerfen.

      „Möchten Sie vielleicht meine Übung besuchen?“, fragte ich ungeduldig.

      „Ja ... Das heißt, nein ...“

      „Dann dreht es sich also um Ihren Freund“, fragte ich recht mürrisch, weil es mich irritierte, dass er sich ungeniert ein langes schwarzes Haar aus seiner relativ kleinen und scharf geschnittenen Nase riss.

      Ziegenhals blickte aus dem Fenster und verzog die Stirn zu einem hässlichen Waschbrett. „Ja, schon ... Er hat den Sommer in Amerika verbracht ... Ein Stipendium an der Duke University in Durham, North Carolina ...“

      Ich lächelte – und ahnte noch immer nichts. „Da bin ich auch mal ein Jahr gewesen – März 1950 bis Februar 1951 ...“

      „Na sehen Sie!“ Irgendwie schien er erleichtert zu sein. „Mein Freund hat ... ja, er hat sich die Fotokopien eines längeren Aufsatzes, eines kleinen Buches mitgebracht ... Einer Arbeit aus dem Jahre 1949 ... Der Autor heißt Charles Emery!“ Den letzten Satz hatte er herausgestoßen, als hätte er beim Verspeisen eines Honigbrots auf eine Wespe gebissen.

      Ich starrte ihn an, gelähmt, im Innersten getroffen. Es schien mir, als wäre ich eine der hölzernen Figuren, die man auf den Rummelplätzen findet und die nach hinten klappen, wenn man mit dem Ball eine ganz bestimmte Stelle trifft. Und Ziegenhals hatte diese Stelle getroffen! Ich sah Särge, Urnen, Kränze, Stricke, vorbeirasende Bahnen, weinende Frauen, höhnische Freunde, barsche Richter, sah mich nackt Spießruten laufen, sah feuchte Gefängniszellen.

      Jetzt war Ziegenhals Herr der Lage; ja, er schien sich direkt an meinem Entsetzen zu weiden.

      „Charles Emery hat eine Arbeit mit dem Titel ‚Social Change in Pattons Landing> verfasst, und Sie, Herr Kolczyk, haben diese Arbeit hier an der EU unter dem Titel ‚Ein amerikanisches Dorf im Spannungsfeld industrieller Entwicklung> als Dissertation vorgelegt – wortwörtlich übersetzt!“ Ziegenhals holte Luft. „Ein Zufall ... Vor mir hat es kein Mensch gemerkt, und nach mir wird es keiner mehr merken – aber ich habe es gemerkt!“

      Ich kannte den Text der Promotions-Ordnung auswendig. „Der Doktorgrad kann nach Maßgabe des Gesetzes über die Führung akademischer Grade ... entzogen werden, wenn sich herausstellt, dass er durch Täuschung erworben ist ...“ Aber das war ja nicht das Schlimmste, das Schlimmste war der Skandal, der folgen würde.

      Was denkt man in solchen Minuten? Erschreckend wenig in erschreckend kindlicher Art und Weise. Aus, aus, alles aus! Und dann will man wieder Kind sein, will die Gewissheit haben, dass alles nicht so schlimm ist und Vater oder Mutter die Sache schon wieder gerade biegen werden. Bis du heiratest, ist alles vorbei! Bei mir setzte der Prozess der Regression überraschend schnell ein. Ich biss mir, was ich als Kind oft getan hatte, die Haut um den rechten Daumen herum so weit ab, dass es blutete. Das konnte doch nicht wahr sein, das durfte doch nicht wahr sein! Also war es auch nicht wahr ...

      Ich sah Reinhild vor mir, die ich einmal geliebt hatte und deretwegen alles so gekommen war. Wäre ich ihr doch nie begegnet, dachte ich, hätte ich mich doch bloß rechtzeitig von ihr getrennt! Mein Gott, warum musste man denn noch zwanzig Jahre später für etwas büßen, das man aus Liebe und aus Mitleid getan hatte!

      Wir waren aus Amerika zurückgekommen, und es war uns immer schlechter gegangen. Mitte 1951 war Reinhild dann ganz plötzlich erkrankt, aus einer Lungenentzündung war eine schwere Tbc geworden, und ich hatte mich gezwungen gesehen, mein Studium so schnell wie möglich zu beenden, um Geld zu verdienen und Reinhild einen längeren Sanatoriumsaufenthalt ermöglichen zu können. In meiner Not, und um nicht alles zu verlieren, hatte ich schließlich schweren Herzens die fragliche Arbeit aus dem Amerikanischen übersetzt und als eigene Dissertation abgeliefert ...

      Reinhild war wieder gesund geworden, indes, wir verstanden uns schon lange nicht mehr, und nun sollte ich einen so entsetzlichen hohen Preis für mein damaliges Handeln zahlen.

      Nein, das durfte nicht sein!

      Ziegenhals hörte auf, mich zu mustern, offenbar wollte er verhindern, dass ich wütend wurde und eine Kurzschlusshandlung beging. Er sah den dunkelgrünen dtv Atlas zur Biologie auf meinem Schreibtisch liegen, zog ihn zu sich herüber, schlug kurz im Register nach und las dann mit der monoton sachlichen Stimme eines Nachrichtensprechers.

      „Parasitismus – in Klammern: Schmarotzertum ... Ein Lebewesen zehrt vom anderen, wobei dieses nicht oder erst nach geraumer Zeit getötet wird. Diese Art des Zusammenlebens tritt in vielen Formen auf ...“

      Langsam zwang ich mich dazu, das zu tun, was allgemein mit „den Tatsachen ins Auge sehen“ bezeichnet wird. Hatte ich zuerst die Realität verdrängen wollen, so ging ich nun zur Taktik des bedrohten Käfers über, ich wollte nichts weiter als Zeit gewinnen. Ich war ein hoch intelligenter Mensch – mein Gott, sollte es da keine Möglichkeit geben, diesen schmutzigen Parasiten loszuwerden!

      Plötzlich fand ich diese Szene lustig, direkt vergnüglich. Mein eigenes Unglück erheiterte mich. Wenn das hier alles zu einem Theaterstück gehörte, dachte ich mir, was würde der Autor dann tun, wenn er mich als positiven Helden vorgesehen hätte? Rasen, schnaufen, toben, drohen durfte ich auf gar keinen Fall. Ich musste gelassen bleiben, weise und gelassen ... Was würde es mir schon ausmachen, ein paar tausend Mark zu zahlen. Und oft entwickelte sich ja zwischen dem Parasiten und dem Wirt eine Art Symbiose, und vielleicht konnte ich mich auch mit diesem dreimal verfluchten Ziegenhals irgendwie arrangieren. Leben und leben lassen! Offenbar war er intelligent genug, um zu begreifen, dass er in seinen Forderungen nur bis zu einer bestimmten Grenze gehen konnte, wenn er seinen Plan nicht gefährden wollte. Wenn er zu hoch spielte, musste er ja damit rechnen, dass ich aufgab und zur Polizei lief.

      „Was verlangen Sie denn?“

      „Ich freue mich, dass Sie vernünftig geblieben sind. Das erleichtert vieles ...“

      „Das könnte sich ändern ...“

      Er lächelte. „Damit rechne ich natürlich.“

      „Haben Sie das wirklich nötig, Herr Ziegenhals?

      „Lassen wir die Moral, Sie sind ja sonst immer so stolz auf die Logik und die Rationalität in Ihrem Denken. Vielleicht können Sie mich verstehen ... Versetzen Sie sich mal in meine Lage, üben Sie sich mal in der Introspektion ... Sie merken schon, dass ich mich in Ihrem Kauderwelsch – Pardon: Ihrer Terminologie ein wenig auskenne. Ich bin zum Parasiten geboren. Ohne Ihr Geld würde ich zeitlebens ein armes Schwein bleiben, das sich sein täglich Brot mit seiner Hände Arbeit verdienen müsste. Eine herrliche Phrase! Ich habe aber weder Veranlagung noch Lust dazu. Ich hasse Chefs und Autoritätspersonen, ich gehe eher zugrunde, als dass ich Befehlsempfänger werde. Ich habe jedoch, das werden Sie verstehen, keine Lust, zugrunde zu gehen. Und ich habe auch keine Lust, Tag für Tag als so genannter Selbstständiger zu schuften, Curry-Würste oder Hosenträger zu verkaufen. Ich habe eben, um es mit Ihren Worten zu sagen, die mittelständischen Werte nicht genügend internalisiert ... Aber auf der anderen Seite will ich das Leben in vollen