Sonst brichst du dir das Herz. Susanne Mischke

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Название Sonst brichst du dir das Herz
Автор произведения Susanne Mischke
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783401805702



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lösten sich auf und nahmen andere Gestalten an. Das zarte Blau des Himmels verwandelte sich in einen purpurnen Sonnenuntergang.

      Die Kinder und ihre Mütter waren längst vom Spielplatz verschwunden, Jogger und Hundebesitzer drehten ihre letzten Runden.

      Eine Clique halbwüchsiger Jungs hockte auf den Bänken und Spielgeräten. Sie rauchten und steckten kichernd die Köpfe über ihren Handys zusammen. Kalt leuchtende Vierecke in der Dämmerung. Zwischendurch glotzten sie zu Valeria hinüber, die auf der anderen Seite des Spielplatzes saß, auf ihrer angestammten Bank unter der Platane. Sie sollte nach Hause gehen, ehe es dunkel wurde. Adriana und Alessandro hatten sie mehrmals davor gewarnt, sich bei Dunkelheit im Park aufzuhalten. Aber was hieß denn schon dunkel?

      So nachtschwarz wie in den umbrischen Bergen wurde es in der Stadt sowieso nie. Und was bedeutete überhaupt nach Hause? Hier war nicht ihr Zuhause. Genau genommen hatte sie gar keines mehr.

      Plötzlich war die Einsamkeit da, wie ein alter, ungebetener Freund. Sie hatte es neulich vor Adriana nicht zugeben wollen, aber es hatte Tage gegeben, da vermisste sie – ja, wen oder was eigentlich? Freunde. Irgendwelche Freunde, so wie diese Jungs da drüben Freunde hatten, mit denen man herumalbern konnte. Zwar kannte Valeria die wenigen Jugendlichen aus dem Dorf und diese kannten sie, weil sie einigen von ihnen Nachhilfe gegeben hatte. Aber Valeria war immer eine Außenseiterin gewesen. Das Mädchen vom Berg hatte nie richtig dazugehört.

      Die Tatsache, dass Alessandro nicht ihr Vater war, hatte Valeria nicht allzu sehr schockiert. Ein Teil von ihr war sogar froh darüber gewesen, denn jetzt wusste sie wenigstens, dass sie ihrer inneren Stimme trauen konnte, die zu Alessandro stets hartnäckig geschwiegen hatte. Wirklich erschüttert hatte sie dagegen die Lüge ihrer Mutter. Wenn Rosa schon bei etwas so Wichtigem gelogen hatte, was durfte man ihr dann überhaupt noch glauben? Und wer war in Wirklichkeit ihr Vater, warum machte sie daraus ein Staatsgeheimnis? Valeria hätte gerne mit jemandem darüber geredet – ausgenommen Adriana oder Alessandro. Mit Mr Wilson vielleicht oder, noch besser, mit Mrs Wilson. Die hätte bestimmt einen guten Rat aus den Zeitschriften, die sie stapelweise las, für sie gehabt. Oder wenigstens ein paar tröstende Worte bei einer Tasse Tee. Ob sie die beiden wohl jemals wiedersehen würde?

      Ein frischer Luftzug wehte über die Rasenfläche. Eigentlich angenehm nach der Hitze des Tages, dennoch zog Valeria ihre Strickjacke enger um den Körper. Die Jungs hatten angefangen zu tuscheln und schauten jetzt immer öfter zu ihr rüber. Zeit, den Rückweg anzutreten. Es war sowieso idiotisch, hier jeden Abend zu sitzen und auf dieses Mädchen zu warten, das Luisa so irritierend ähnlich sah. Seit drei Tagen machte sie das, sehr zum Ärger von Adriana, die die quengelnden Kinder wieder allein ins Bett bringen musste, und auch Alessandro hatte schon seine Besorgnis geäußert. »Es ist gefährlich für ein junges Mädchen, sich so spät noch im Park herumzutreiben.«

      Nein, es machte keinen Sinn. Luisa konnte sich überall zeigen, wenn sie nur wollte, und zwischen ihrem letzten und dem vorletzten Besuch hatten immerhin ganze vier Jahre gelegen. Außerdem war dieses Mädchen, das Valeria gesehen hatte, gewiss nur irgendeine Studentin gewesen, die ihr zugewinkt hatte, weil auch sie die große Ähnlichkeit zwischen ihnen bemerkt hatte. Luisa! Was für ein Blödsinn!

      Weiter kam sie nicht mit ihren Grübeleien, denn nun lösten sich drei der Jungs aus der Gruppe und schlenderten betont lässig über den Spielplatz und zu Valeria hinüber. Vorneweg ging ein kräftiger, sommersprossiger Teenager, vierzehn oder fünfzehn vielleicht, mit rötlichem Stoppelhaar und einem Kinn wie ein Nussknacker. Die Hände in die Seiten gestützt, baute er sich vor ihr auf. »He, du! Willst du ficken?«

      Valeria starrte ihn fassungslos an, und während seine Eskorte in Gelächter ausbrach, wurde ihr bewusst, dass außer ihr und diesen Jungs kein Mensch mehr im Park war. Was jetzt, wie reagieren?

      Noch während Valeria fieberhaft überlegte – antworten, und wenn ja, was, oder lieber rasch weglaufen? –, machte der Rothaarige Anstalten, sich neben sie auf die Bank zu setzen. Doch dazu kam es nicht. Ein pfeilförmiger Schatten stürzte vom Himmel herab. Der Rothaarige schrie gellend auf, sein Körper krümmte sich zusammen und er schlug die Hände vor sein Gesicht. Zwischen den Fingern quoll Blut hervor. Noch ein Schrei ertönte, doch der kam dieses Mal aus der Luft: ein lang gezogener Laut, der Valeria sehr vertraut war. Deutlich erkannte sie den Umriss des Falken vor dem rötlichen Stadthimmel. Der Raubvogel schien Spaß an der Sache zu haben, er flog noch einen weiteren Angriff, der sein Opfer ein paar Haarbüschel kostete, ehe er im Schatten einer Baumkrone verschwand und unsichtbar wurde. War das möglich? Nein, das war bestimmt nur ein Falke gewesen, nicht ihr Falke. Und doch hatte er sie verteidigt. Wie ein Freund.

      »Scheißvogel, ich blute wie ein Schwein«, brüllte der Verletzte. Er hatte den Rückzug angetreten, gefolgt von seinen Kumpels, die um ihn herumhüpften und mit angewinkelten Armen flatterten. Dazu gackerten sie und grölten vor Lachen, genau wie die drei, die auf der Bank geblieben waren. Ganz klar: Ihr Kumpel war ein Verlierer, ein Schwächling, er verdiente kein Mitleid und keinen Respekt mehr.

      Zeit zu gehen. Valeria stand auf und im selben Augenblick sah sie Luisa. Wie aus dem Boden gewachsen stand sie an der Wegbiegung, genau an der Stelle, an der Valeria sie vor ein paar Tagen aus den Augen verloren hatte. Sie trug ein weißes Kleid, das gegen das Dunkel des Parks anleuchtete.

      Valeria eilte auf sie zu. »Warte!«

      Aber schon hatte die Gestalt sich wieder umgedreht und folgte dem Weg, der zum Seitenausgang des Parks führte. Ihre Schritte wirkten leicht, fast schwebend, und Valeria hatte Mühe, ihr zu folgen. Sie sah sie durch das offene Tor gehen und nach links abbiegen. Valeria war das letzte Wegstück gerannt, erreichte das Tor und schaute sich um. Niemand war zu sehen. Verzweiflung machte sich in ihr breit. Warum hielt dieses Mädchen sie dermaßen zum Narren? Das ganze Elend der letzten Tage und Wochen, bisher mühsam unterdrückt, schien sich nun Bahn zu brechen, Tränen schossen ihr in die Augen. Dann stutzte sie.

      Am Straßenrand parkte ein Auto und auf dem Rücksitz saß sie. Ihr Kleid leuchtete wie eine Schneewehe durch Valerias Tränenschleier. Diese wischte sich hastig über die Augen, jeden Moment darauf gefasst, dass die Tür geschlossen und der Wagen losfahren würde. Aber nichts geschah. Wartete das Mädchen auf sie?

      Ihr Körper handelte nun von alleine, ging auf den Wagen zu, wie von einem Magneten gezogen. Jetzt waren es nur noch wenige Meter. Man steigt nicht in fremde Autos, flüsterte eine Stimme, irgendwo in ihrem Hinterkopf. Noch dazu ähnelte dieser Wagen jenem, in dem der Mann gekommen war, den Rosa erschossen hatte.

       Schwarze Wagen bringen nur Unglück, Finger weg von schwarzen Wagen!

      Aber die Tatsache, dass dieses fremde und doch so vertraute Mädchen darin saß, brachte Valerias Warnsystem durcheinander. Im Gegenteil, sie war erfüllt von der Gewissheit, eine andere Welt zu betreten, wenn sie in dieses Auto stieg. Sie konnte es nicht anders benennen und sie hätte es auch nicht erklären können. Sie spürte nur, dass sie gerade dabei war, die wichtigste Entscheidung ihres Lebens zu treffen. Also stieg sie ein und setzte sich neben das Mädchen im weißen Kleid. So nah war sie ihr jetzt, dass sie ihren Duft wahrnehmen konnte. Er war seltsam vertraut. Woher kannte sie diesen Duft nur? Von Rosa. Rosas Seife, die die verrückte Ersilia ihr immer mitbrachte, roch genauso, nach Orangen und Bergamotte. Noch während Valeria über diesen seltsamen Umstand nachdachte, sagte das Mädchen: »Da bist du ja. Wurde auch Zeit.« Sie streckte sich nach vorn und sagte, an den Fahrer gewandt: »Was ist, Claudio, wollen wir hier Wurzeln schlagen?« Ihre Stimme war leise und recht hell, jedoch unterlegt mit einem rauchigen Ton.

      Der Angesprochene stieg aus, schloss die Tür auf Valerias Seite, die diese vor lauter Faszination zu schließen vergessen hatte, und setzte sich wieder ans Steuer. Wortlos ließ er den Motor an und fuhr los.

      »Ich bin Lucia.«

      Lucia. Valeria versuchte vergeblich, sich zu erinnern, wie ihre Schattenschwester zu ihrem Namen gekommen war. Der Name Luisa war einfach da gewesen, so wie Luisa selbst irgendwann einfach da gewesen war. Luisa – Lucia. Wie ähnlich das klang!

      Im Halbdunkel des Wagens betrachtete Valeria ihr Gegenüber. Es war, als würde sie sich selbst ansehen