Название | Die vier Jahreszeiten des Sommers |
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Автор произведения | Grégoire Delacourt |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783455170795 |
Grégoire Delacourt
Die vier Jahreszeiten des Sommers
Roman
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Atlantik
Für Dana, Dana, Dana und Dana
»Und ich, ich war wie die Lampions nächtlicher Feste: Der Schmerz und die Freude mehrerer Lieben verzehrten mich.«
Valery Larbaud, Kinderseelen
PIMPERNELLE
In jenem Sommer sang Francis Cabrel Hors Saison, und alle sangen Cabrel.
In jenem Sommer war der Sommer schnell gekommen. Praktisch schon am letzten Mai-Wochenende, als die Temperatur plötzlich auf zwanzig Grad kletterte. In den Gärten hörte man wieder Lachen, trockenes Husten wegen der ersten fettigen Rauchwolken, die von den Grills aufstiegen, und die Jauchzer der Frauen, die halbnackt beim Sonnenbaden ertappt wurden. Es war wie Vogelgezwitscher. Als wäre das ganze Dorf eine Voliere.
Abends trafen sich die Männer wieder zum Rosé, gut gekühlt, um den Alkohol zu überlisten, den Fluch zu bannen und noch mehr zu trinken. Jetzt hatte der Sommer wirklich angefangen.
In jenem Sommer gab es Victoria. Und es gab mich.
Victoria hatte goldenes Haar, smaragdgrüne Augen, wie zwei kleine Edelsteine, und ihr Mund war so verlockend wie eine reife Frucht. Victoria! Sie ist mein schönster Sieg, sagte ihr Vater ständig, begeistert von seinem Bonmot.
Noch gehörte sie mir nicht, aber ich näherte mich ihr behutsam.
Victoria war dreizehn. Ich war fünfzehn.
Ich sähe schon ein bisschen wie ein Erwachsener aus, sagte meine Mutter, und diejenigen, die meinen Vater gekannt hatten, erinnerte ich an ihn. Meine Stimme war schon fast tief, manchmal heiser, wie morgens, nach dem Aufwachen. Über meiner Oberlippe sah man schon ein bisschen dunklen Flaum. Ich fand das Ganze damals nicht besonders schön, aber Victorias smaragdgrüne Augen konnten über manche Dinge hinwegsehen.
Ich war ihr Freund. Und ich träumte davon, viel mehr zu sein.
Am Anfang jenes Jahres, als es so kalt geworden war, hatte meine Mutter ihre Arbeit verloren.
Sie war in Lille Verkäuferin bei Modes de Paris gewesen. Ihr Charme und ihr Feingefühl wirkten Wunder, mit ihrem sicheren Geschmack hatte sie viele plumpe Gestalten schöner und eleganter aussehen lassen. Aber das konnte sie nicht vor einer Lawine von Ungerechtigkeiten bewahren.
Nachdem sie wochenlang ihren Kummer in Tränen und Martini ertränkt hatte, beschloss sie, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, und meldete sich für einen Buchhaltungskurs an. Wenn ich schon selbst kein Geld habe, sagte sie, kann ich wenigstens das der anderen zählen. Ich mochte ihre Ironie, die ihr half zu überleben. Sie schnitt sich die Haare und kaufte sich ein blassrosa Frühlingskleid, das ein bisschen zu sehr ihre schlanke Taille und den üppigen Busen betonte.
Nach dem Tod meines Vaters – sein Herz hatte am Steuer seines roten Wagens versagt, ihn auf der Stelle getötet und noch drei weitere Opfer gefordert – hatte meine Mutter keine Lust mehr, ihr Herz einem anderen zu öffnen.
Nichts und niemand kann ihn ersetzen, klagte sie, er ist und bleibt meine einzige Liebe, das habe ich geschworen.
Sie glaubte, was ich damals auch gern glauben wollte, dass die Liebe einzigartig ist.
Als er starb, war ich drei Jahre alt. Ich erinnerte mich nicht an ihn. Meine Mutter weinte, weil mir Bilder und Gerüche, seine starken Arme und pikenden Küsse fehlten. Sie gab sich Mühe, meinen Vater trotzdem lebendig zu halten, und zeigte mir oft die Fotos ihrer Anfangszeit: in einem Garten, am Strand von Étretat, unscharf in einem Zugabteil zweiter Klasse, auf einer Restaurantterrasse, an einem Brunnen in Rom, auf einem schönen Platz hinter dem Palazzo Mattei di Giove, in einem riesigen weißen Bett, wahrscheinlich morgens, er sieht ins Objektiv, sie fotografiert, er lächelt, er ist schön – Gérard Philipe in Der Teufel im Leib –, er wirkt verschlafen, glücklich, nichts kann ihm passieren. Mich gibt es noch nicht. Nur den Anfang eines großen Liebesfilms.
Sie erzählte mir von seinen Händen. Von seiner zarten Haut. Seinem warmen Atem. Sie erzählte mir, wie er mich ungeschickt in die Arme nahm. Wie er mich wiegte. Sie flüsterte die Lieder, die er mir als Neugeborenem ins Ohr summte. Sie weinte um den Abwesenden. Um die Stille. Sie weinte um ihre Ängste, und ihr Weinen machte ihr Angst. Beim Betrachten der wenigen Fotos stellte sie sich seine heutigen Falten vor. Da, siehst du, seine Augen wären wie kleine Sonnen. Und seine Löwenfalte hier, die wäre noch tiefer geworden. Er hätte auch ein paar weiße Haare, da und da, er wäre noch schöner.
Sie stand auf und rannte in ihr Zimmer.
Als ich größer wurde, wünschte ich mir einen Bruder, zur Not eine Schwester, vielleicht auch einen dicken, kuschligen Hund, aber meine Mutter blieb ihrer großen verlorenen Liebe treu. Und nicht einmal der betörende Charme des jungen Apothekers – er sieht aus wie ein Hollywoodstar, sagte man im Dorf –, nicht einmal seine Präsente und Versprechungen konnten sie umstimmen.
In jenem Sommer war meine Mutter beim Kapitel Lastenhefte und Verluste durch höhere Gewalt. Bei Tabellen und Zahlen. Bei Einwegverpackungen.
In jenem Sommer musste ich sie abfragen. Ich war ihr Lehrer. Sie nannte mich ihren kleinen Mann. Sie fand, dass ich meinem Vater immer ähnlicher wurde. Sie war stolz. Sie liebte mich. Sie lächelte mich an, und ich zerschnitt mir die Zunge beim Anlecken der vielen Umschläge, in die sie ihren Lebenslauf gesteckt hatte, wie in eine Flaschenpost. Sie griff nach meiner Hand. Sie küsste sie.
»Tut mir leid mit dem Sommer, Louis, sei mir nicht böse.«
In jenem Sommer fuhren wir nicht in den Urlaub.
Wir wohnten in Sainghin-en-Mélantois.
Ein nichtssagendes Dorf, das jedem anderen glich. Eine Kirche aus dem 16. Jahrhundert, Saint Nicolas. Ein Pferdewettbüro Le Croisé. Ein Supermarkt 8 à Huit. Eine Bäckerei Dhaussy. Ein Blumenladen Rouge Pivoine. Ein Café du Centre. Ein anderes Café. Und noch ein drittes, in dem diejenigen gestrandet waren, die sich nicht mehr vorwärtsbewegten. Angeblich war es Gift, das sie tranken und das sie ins Schwanken brachte. Dann erzählten sie von Schiffsreisen und Stürmen, die sie nicht erlebt hatten, aber an die sie sich dennoch erinnerten. Von Gespenstern. Von Orten, an denen sie gewesen waren, ohne sich je von hier wegzubewegen, um in einen Krieg zu ziehen oder ein Mädchen zu erobern. Einer von ihnen hatte mich eines Abends am Arm gepackt, als ich aus der Schule kam. Eine Tonkinesin, Jungchen, brüllte er, der Körper einer Göttin, eine hinreißende Schlampe, o ja, eine Wilde mit Nachtaugen. Eines Tages packt es dich auch, Kleiner, das mächtige Feuer, wenn dein ganzer Körper glüht.
Er hatte recht.
Die Frauen ihrer Träume schwammen auf dem Grund ihrer Gläser. Manche behaupteten, dass sich in ihren Gesichtern die Karten und das Leid der Länder abzeichneten, in denen sie nie gewesen waren.
Sainghin-en-Mélantois. Gleich hinter den Kneipen standen die ersten Backsteinhäuser, deren Gärten sich wie eine Patchworkdecke bis zum Rain der großen Rüben- und Getreidefelder ausbreiteten, und die Sandwege, die bis zum Wald von Noyelle führten, wo die Jungen an den ersten schönen Tagen vor den Mädchen »Männer« spielten, indem sie mit ihren Gewehren auf Spatzen und Finken zielten, die Gott sei Dank schneller flogen als Schrot.
Ein Dorf, wo jeder jeden kannte und wo vieles totgeschwiegen wurde, Wahrheiten wie Lügen. Ein Dorf, wo man tuschelte, dass der Schmerz der einen die Erbärmlichkeit der anderen beruhige. Wo das Fehlen von Zukunft traurige Gedanken aufkommen, Wut hervorbrechen und nachts Leute verschwinden ließ.
Victorias Eltern hatten ein großes orangerotes Backsteinhaus an der Straße nach Astaing. Ihr Vater war Bankier beim Crédit Nord, Place Rihour Nr. 8, in Lille. Er ist überhaupt nicht lustig, sagte Victoria, er zieht sich immer an wie ein Opa, und sein Lächeln sieht aus wie eine Grimasse.