Paulas Töchter. Hans Garbaden

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Название Paulas Töchter
Автор произведения Hans Garbaden
Жанр Зарубежные детективы
Серия
Издательство Зарубежные детективы
Год выпуска 0
isbn 9783862871148



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verfallenen Kate ein Stück hinter dem Modersohn-Haus. Sie können es gar nicht übersehen. Es ist das letzte Haus der Straße.« Murken nickte noch einmal dankend und machte sich auf den Weg.

      Das letzte Haus auf der rechten Seite der Straße war eine kleine, alte, reetgedeckte Kate ohne Schornstein, deren Wände aus Felssteinen und Lehm bestanden. Direkt davor war ein Torfstich, in dem aber niemand arbeitete. Neben der Kate war eine Ziege angepflockt und graste auf dem mageren Boden. Hinter dem Haus befand sich ein kleiner Gemüsegarten mit Beerensträuchern und ein paar Obstbäumen.

      Murken klopfte an die schief in den Angeln hängende Tür. Nachdem er ein undeutliches Gemurmel ausmachte, trat er ein. Die Kate bestand aus einem einzigen Raum. Auf der linken Seite, in einem offenen Stall, stand eine Kuh, die gerade Heu aus einer Raufe fraß. In der Mitte des Raumes war eine offene Feuerstelle, über der ein Topf mit einer köchelnden Suppe hing. Rechts im Raum war eine kammerartige Abtrennung, in der sich so etwas wie ein Alkoven befand. Darin lag eine ältere Frau auf einem Strohbett.

      Murken stellte sich vor und sagte dann: »Sie sind sicher Meta Tietjen.«

      Die Frau seufzte tief: »Ja, das bin ich. Haben Sie schon etwas über meine Nichte Paula und die anderen Mädchen erfahren?« Nachdem Murken diese Frage verneint hatte, fuhr Meta Tietjen fort: »Ein Jammer, ich mache mir solche Vorwürfe, dass ich nicht mit der Kleinen nach Bremen gefahren bin. Ganz krank bin ich geworden. Dabei müssten meine Kuh und meine Ziege unbedingt gemolken werden.« Nachdem Murken angeboten hatte, in der Nachbarschaft jemanden dafür zu suchen, hob Meta Tietjen abwehrend die Arme: »Nein, nein, es geht schon wieder. Ich stehe gleich auf, hole die Ziege herein und erledige das. Meine Suppe ist ja auch fertig.« Murken fragte sie noch, ob ihr jemand Auffälliges am Bahnhof begegnet sei, als sie ihre Nichte zum Zug gebracht hatte. »Nein, da war ja außer uns niemand.« Dabei brach Meta Tietjen in Tränen aus.

      Für Murken war klar, dass er hier nicht mehr erfahren würde, und verabschiedete sich, um die Heimfahrt nach Bremen anzutreten.

      18. Juni 1921

      BREMER KURIER

      Die Spur führt nach Worpswede

      Von Lena Geffken

      Die Bremer Polizei hat immer noch keine Spur bezüglich des Verbleibs der zehnjährigen Paula Lehmkuhl aus dem Bremer Findorffviertel, die seit dem 16. Juni spurlos verschwunden ist. (Wir berichteten in unserer Ausgabe vom 17. Juni 1921 darüber.)

      Paula Lehmkuhl wurde zuletzt am Bahnhof Worpswede gesehen. Nach einem Besuch ihrer Tante wurde sie von dieser zum Bahnhof gebracht. Vor Abfahrt des Moor-Express verließ die Tante jedoch den Bahnhof, so dass sie die Abfahrt des Mädchens nicht mehr bezeugen kann. Seitdem fehlt von dem Kind jede Spur.

      Paula Lehmkuhl ist das vierte Bremer Mädchen einer Serie, die am 7. Juni mit dem spurlosen Verschwinden der neunjährigen Paula Stein begann.

      Paula Schütte, zehn Jahre alt, wurde am 8. Juni zuletzt gesehen, und die elfjährige Paula Cordes verschwand am 11. Juni spurlos.

      Auffällig ist, dass es sich bei allen Mädchen um Kinder mit dem Vornamen Paula handelt. Die naheliegende Vermutung, dass die Mädchen von einem Täter mit einem Paula-Tick entführt wurden, konnte die Polizei bisher nicht bestätigen.

      Die Eltern von minderjährigen Kindern in Bremen sind in großer Sorge. Da die Polizei noch keine Ergebnisse bei der Suche nach den Mädchen vorweisen kann, ergeht sich die Bevölkerung in wilden Spekulationen. Sind die Mädchen einem Serienmörder zum Opfer gefallen, oder sind sie Opfer einer Bande von Mädchenhändlern geworden? Sind die Kinder schon tot, oder sind sie in ein Kinderbordell nach Berlin verschleppt worden?

      Die Bremer Polizei arbeitet in Zusammenarbeit mit der Worpsweder Polizei mit Hochdruck an dem Fall der verschwundenen Mädchen. Auch die Lokführer und Stationsbeamten des Moor-Express sind angewiesen worden, nach auffälligen Personen, die das Gespräch mit Kindern suchen, Ausschau zu halten. Die Polizei appelliert in diesem Zusammenhang an die Bevölkerung, Ruhe zu bewahren und ihre Kinder nicht allein reisen zu lassen.

      18. Juni 1921

      Kommissar Harm Logemann hörte sich den Bericht des Wachtmeisters aufmerksam an. »Nicht viel, aber immerhin etwas«, war sein Kommentar. »Die Tante können wir als Täterin ausschließen, denke ich. Aber wir sollten nach Worpswede fahren, um sowohl diesem Cord als auch dem Maler Lür mal auf den Zahn zu fühlen.«

      Der Bahnhofsplatz war nur von wenigen Menschen bevölkert, als die beiden Beamten in Worpswede aus dem Moor-Express stiegen. Am Himmel zogen riesige Wolkengebilde vorbei, lösten sich auf und ballten sich dann wieder zusammen.

      Logemann blickte hoch. »Dieser Himmel im Zusammenspiel mit der Weite des Landes in dieser geheimnisvoll anmutenden Moorlandschaft hat Mackensen, Modersohn und die anderen Maler für Worpswede und das Teufelsmoor begeistert.«

      Der junge Wachtmeister staunte: »Ich wusste gar nicht, dass Sie ein so großer Kunstliebhaber sind, Herr Kommissar.«

      Logemann richtete den Blick wieder nach vorn: »Kommen Sie, Murken, wir müssen den Worpsweder Ortspolizisten aufsuchen und ihn über unsere Ermittlungen informieren. Das können wir auf dem kleinen Dienstweg machen, denn Johann Behrens und ich waren zusammen als Soldaten in Frankreich. Im Krieg ’14 bis ’18 haben wir zwei Jahre Seite an Seite im Schützengraben gelegen. Nach Ende des Krieges wurden wir in den Polizeidienst übernommen. Er wollte keine Karriere in der Großstadt machen, sondern hier in seiner Heimat ein ruhigeres Leben als Dorfpolizist führen.«

      Sie gingen vom Bahnhof aus durch die Bergstraße zur Polizeistation in der Lindenallee.

      Johann Behrens, ein klobiger Mann mittleren Alters, wollte gerade die Polizeistation verlassen. Die beiden Kriegskameraden begrüßten sich voller Freude, und Logemann stellte den Wachtmeister vor und schilderte ihr Anliegen.

      Behrens Miene verdüsterte sich. »Ja, die verschwundenen Mädchen aus Bremen. Mich beschäftigt der Fall natürlich auch. Bisher gab es hier aber auch nicht den geringsten Hinweis, dem man hätte nachgehen können, und auf das Geschwätz von Stammtischbrüdern und einer klatschsüchtigen Kneipenwirtin gebe ich nicht viel. Der Lür soll ja ein guter, talentierter, junger Maler sein, aber er ist ein Alkoholiker, der schon mit einem Bein im Irrenhaus steht. Er und die Entführung von jungen Mädchen? Nee, das passt nicht zusammen. Und was den Cord Wischhusen angeht, das ist ein ganz armes Schwein. Er ist der jüngste von drei Söhnen vom Bauern August Wischhusen aus Weyerdeelen. Seine Mutter ist bei seiner Geburt gestorben, und er wurde von seinem Vater aufgezogen. Die beiden älteren Brüder waren Tagediebe und haben sich nicht um ihn gekümmert. Nach dem Tod des alten Wischhusen haben die beiden den Hof und die dazugehörigen Ländereien versoffen und das Teufelsmoor verlassen. Es wird gemunkelt, dass sie in Bremerhaven vor Anker gegangen sind. Der eine soll beim Beladen eines Schiffes in eine Luke gestürzt sein und sich das Genick gebrochen haben. Der andere soll angeblich mit einem Auswandererschiff nach Amerika abgedampft sein. Der junge Cord ist der Gemeinde zur Last gefallen und musste sich schon als Dreizehnjähriger bei Bauern als Jungknecht verdingen. Er ist nicht ganz richtig im Kopf, aber eigentlich ein sehr netter Kerl, der keiner Fliege etwas zuleide tut. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er in seiner Einfalt ein Mädchen entführen kann, ohne dass das halbe Dorf etwas davon merkt.«

      »Wir möchten uns aber doch mal mit Cord Wischhusen und dem Maler Lür unterhalten«, meinte Logemann.

      »Gut«, sagte Behrens, »wo der Cord gerade arbeitet, weiß ich nicht, aber am Atelier vom Lür kommen wir auf meinem Weg zum Bauern Lankenau vorbei. Dem sollen angeblich drei Kühe von der Weide gestohlen worden sein. Liegt alles im Ostendorfer Moor, ganz in der Nähe vom Ortskern.«

      Die drei machten sich auf den Weg. Der Ortspolizist deutete auf ein kleines Gehöft. »Dort, auf dem Hof des Kleinbauern Martin Brünjes, hatte Paula Modersohn-Becker ein Zimmer gemietet und zum Atelier ausgebaut. Es war – wie sie einmal gesagt haben soll – ihr Lilienatelier und zeitlebens ihre liebste Stube. Ein Jammer, dass sie so früh gestorben ist und die Anerkennung ihrer Kunst nicht mehr erlebt hat.«

      Logemann war bei der Erwähnung des