Mühlviertler Rache. Eva Reichl

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Название Mühlviertler Rache
Автор произведения Eva Reichl
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839261620



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Jetzt mussten sie noch den Tatort finden.

      In Freistadt bog Stern auf die Leonfeldner Straße ein und erblickte kurz darauf auf der linken Seite den Bahnhof. Hier waren sie richtig. Er folgte der Straße und behielt die dazu parallel verlaufenden Gleise im Auge.

      »Gleich verschwinden sie unter der Straße«, machte Tobias wenig später seinen Großvater aufmerksam, dass sie auf eine Brücke zusteuerten. »Vielleicht ist er ja gesprungen, der Tote … Ich meine, als er noch nicht tot gewesen ist.«

      »Tobias!«, fuhr Melanie ihren Bruder an, da ihr schon allein bei der Vorstellung, was sie dort vorfänden, wenn ihr Bruder recht hatte, übel wurde.

      »Das wissen wir noch nicht«, versuchte Stern, die Kinder zu beruhigen. Er verringerte die Geschwindigkeit. Auf der Brücke hielt er an, schaltete Blaulicht und Warnblinkanlage ein und stieg aus. Über das Geländer warf er einen Blick auf die Bahntrasse hinab.

      »Also, gesprungen ist er schon mal nicht«, sagte Tobias, der plötzlich neben ihm auftauchte und auf ein Meer aus blau blinkenden Lichtern, etwa einen halben Kilometer entfernt auf der Bahntrasse, starrte.

      »Nein, gewiss nicht. Aber du darfst deiner Mutter auf gar keinen Fall etwas davon erzählen«, verlangte Stern.

      »Ist doch klar, Opa. Die macht dich sonst zur Sau.« Tobias grinste.

      Und Stern seufzte. »Ab in den Wagen mit dir.«

      Er startete den Motor und ließ den Audi von der Brücke rollen. Wenige Meter danach zweigte rechts ein Weg ab. Davor hatte sich allerdings ein Stau gebildet, da das blau blinkende Lichtgewitter am Ende des Weges die Aufmerksamkeit aller Autofahrer auf sich zog. Viele Köpfe wurden aus den Fenstern gereckt, um zu ergründen, was bei den Gleisen vor sich ging. Immer wieder sah Stern Handys, die aus den Autos gehalten wurden, um Fotos vom Geschehen zu machen. Ein schnelles Vorankommen war unmöglich. Ein Polizist versuchte, die Schaulustigen zum Weiterfahren zu bewegen – mit mäßigem Erfolg, wie Stern feststellte. Er drückte auf die Hupe. Dann noch einmal. Das wiederum veranlasste einen SUV-Fahrer zu einer nicht jugendfreien Geste. Im Schritttempo näherte sich Sterns Audi der Abzweigung. Als er sie endlich erreichte, nickte Stern dem Polizisten zu, dem der Schweiß auf der Stirn stand, deutete auf das Blaulicht auf seinem Wagen und drückte seinen Dienstausweis gegen die Seitenscheibe. Der Uniformierte warf einen flüchtigen Blick darauf und gab den Weg zu der Bahntrasse für ihn frei.

      »Wow!«, kommentierte Melanie den Tumult nahe dem Wald und machte Fotos mit ihrem Smartphone. Mehrere Polizeiwagen, ein Rettungsauto, der Kleinbus der Spurensicherung, ein Leichenwagen, dazwischen jede Menge Menschen in Uniform und Zivilkleidung. Sie alle waren hier versammelt, um ein Verbrechen aufzuklären. Also war es doch kein Selbstmord, dachte Stern und auch, dass die Sache wohl länger dauern würde.

      »Ist ja voll geil!«, rief Tobias, der sich mit seinem Oberkörper zwischen die Vordersitze schob, um besser sehen zu können.

      »Dieses Wort sagt man nicht«, ermahnte Stern seinen Enkel. »Außerdem ist jemand gestorben. So etwas ist nie geil. Schreib dir das hinter die Ohren.«

      »Das hab ich nicht gemeint, Opa, sondern die vielen Polizeiautos!« Tobias deutete durch die Windschutzscheibe, in der sich das blau blinkende Licht brach und zuckend ins Wageninnere fiel.

      »Schon klar«, brummte Stern und parkte den Audi gleich hinter Webers Wagen.

      »Was sollen wir jetzt tun?« Melanie hatte aufgehört, Fotos zu knipsen, und drückte ihre Nase am Seitenfenster platt.

      »Ihr könnt euch die Beine ein wenig vertreten, dort drüben.« Stern deutete auf den Waldrand gleich neben dem Weg, der weit genug von den Einsatzkräften entfernt zu sein schien und nahe genug, um ein Auge auf die Kinder zu haben. »Ihr geht auf gar keinen Fall da runter!« Sein ausgestreckter Finger wies nun auf die Gleise, wo die Kollegen der Spurensicherung in ihren weißen Overalls geschäftig hantierten. Stern machte unter ihnen Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht und Gruppeninspektor Hermann Kolanski aus. Wie zu erwarten, waren sie vor ihm eingetroffen. Vor ihnen kniete Dominik Weber, der Gerichtsmediziner. Der Raser von der S10. »Ihr dürft die ganze Zeit mit euren Handys spielen. Ich werde es eurer Mutter nicht verraten«, sagte Stern, führte den Zeigefinger an seinen Mund und gab vor, diesen mit einem imaginären Schlüssel zu versperren.

      »Du meinst, wir verraten dich nicht bei Mama, weil du uns hierher mitgenommen hast«, stellte Tobias richtig. Er hielt seiner Schwester grinsend die Hand hin und die schlug ein.

      Stern seufzte. Wie hatte er sich nur in die Gewalt von zwei Kindern begeben können? Auch wenn sie sein eigenes Fleisch und Blut waren, jetzt quetschten sie ihn aus wie eine reife Zitrone. »Ist schon recht. Hauptsache, ihr stellt keinen Unsinn an.« Stern stieg aus dem Wagen und nahm den schmalen Trampelpfad, welcher von den Einsatzkräften bereits ausgetreten worden war, durch das Gestrüpp hinab zu den Bahngleisen. Er warf noch einen Blick zurück zu seinen Enkelkindern, ob sie seinen Anweisungen Folge leisteten, denn wenn nicht, würde er sie von einer Polizistin bewachen lassen müssen, Staatsressourcen hin oder her. Doch Tobias und Melanie winkten ihm brav wie Lämmer zu.

      Als Stern die Trasse erreichte, sah er den rötlichen Schimmer auf den Schienen und der Schüttung. Das Opfer musste viel Blut verloren haben, das sich auf dem kurzen Stück der Bahnstrecke verteilt hatte. Irgendwo dort lag der Leichnam.

      »Grüß Gott, Chef!«, hieß Mara Grünbrecht ihren Vorgesetzten am Tatort willkommen und strich auf einer Seite ihre schulterlangen dunkelbraunen Locken hinter das Ohr. Kolanski, wie immer mit schwarzer Lederjacke und Sonnenbrille unterwegs, deutete mit der Hand einen Gruß an, sagte aber nichts, da er konzentriert Webers Tun verfolgte. Er hatte die Sonnenbrille auf den Kopf hochgeschoben, um alles genau sehen zu können.

      Der Gerichtsmediziner kniete neben den menschlichen Überresten, beugte sich über sie und sagte, ohne aufzublicken: »Auch schon da?«

      »Was haben wir?«, fragte Stern, ohne auf Webers Neckerei einzugehen.

      »Nicht viel, nur den Torso und einen Teil der Gliedmaßen. Kopf, Hände und Füße fehlen«, antwortete Grünbrecht. Stern folgte ihrem Fingerzeig die Gleise entlang. Eine Blutspur zog sich von jener Stelle, an der die kopflose, an Armen und Beinen an den Schienen mit Seilen festgebundene Leiche lag, mehrere Meter weit den Bahndamm entlang. Dann verlor sich das Blut, wurde weniger. Wahrscheinlich hingen die übrigen Leichenteile irgendwo unten am Zug fest, der hundert Meter weiter vorn zum Stillstand gekommen war. Oder sie lagen in den Büschen, die seitwärts des Bahndammes wucherten.

      »So wird es schwer, das Opfer zu identifizieren. Und einen Aufruf mit Foto können wir vergessen.« Weber blickte auf und überprüfte, ob alle mitbekommen hatten, was er mit dem Foto hatte ausdrücken wollen, gluckste und redete weiter. »Wir haben keine Fingerabdrücke. Das Opfer hatte ebenso keinen Ausweis eingesteckt. Wenn wir Glück haben, ist seine DNA in unserer Datenbank. Sonst sehe ich schwarz für unseren Kopflosen.«

      »Vielleicht hat er ein anderes Merkmal, aufgrund dessen wir ihn identifizieren können«, warf Grünbrecht ein. »Ein auffälliges Muttermal zum Beispiel. Eine Tätowierung oder eine charakteristische Narbe.«

      »Das wissen wir erst, wenn ich ihn auf dem Tisch hab. Hier ziehe ich ihn gewiss nicht aus. Sonst glaubt der Stern noch, in meinem Kopf ist ein IC entgleist.« Weber lachte abermals. Dann untersuchte er den Torso auf augenscheinliche andere Wunden, die nicht vom Überrollen des Zuges stammen konnten.

      »Wo sind die Passagiere?«, fragte Stern knapp. Neben Webers schrägem Humor würde ihm noch fehlen, dass eine Horde hysterischer Zuggäste über den Tatort herfiel und alle Spuren niedertrampelte.

      »Die ÖBB hat sie mit einem Bus abgeholt. Waren eh nicht mehr viele«, erklärte Grünbrecht ihm.

      Stern begutachtete die Leiche genauer. Aufgrund des vielen Blutes wusste er auch ohne Webers Analyse, dass das Opfer durch das Überrollen des Zuges ums Leben gekommen war und nicht vorher das Zeitliche gesegnet hatte. Der Täter hatte es demnach psychisch leiden lassen wollen, es wahrscheinlich bis zum Schluss in dem Glauben gelassen, dass es möglicherweise eine Chance gab, nicht an diesem Ort zu sterben. Ob der Täter dabei zugesehen hatte, wie der Zug den Mann schlussendlich