Kalte Nacht. Anne Nordby

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Название Kalte Nacht
Автор произведения Anne Nordby
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839263587



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ist, dann hält er das Handy an sein Ohr. »Hej, Maja. Was ist los?«, fragt er, und dabei schlägt sein Herz schneller, als er möchte. »Habt ihr Frau Nowak gefunden?«

      »Nein. Aber es gibt eine Neuigkeit aus der Gerichtsmedizin.«

      Statt sich zu beruhigen, rast Skagens Herz weiter. Schweiß rinnt seine Schläfen hinab, und er wischt ihn fahrig weg. »Die Todesursache des Mädchens?«

      »Nein, die ist noch unklar. Dafür steht fest, dass sie vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr hatte.«

      Skagen lässt die Information sacken, während Maja weiterredet: »Es sind minimale Verletzungen im Genitalbereich und an den Oberschenkeln festzustellen. Sie liegen allerdings im Bereich eines normalen Geschlechtsverkehrs, sagt unser Rechtsmediziner. Was nicht zwingend heißen muss, dass er einvernehmlich stattgefunden hat. Auf jeden Fall wurde ein Kondom benutzt. In der Vagina wurde ein Spermizid gefunden. Leider konnte kein einziges Spermium sichergestellt werden.«

      »Es könnte trotzdem ein Missbrauch vonseiten des Vaters gewesen sein«, sagt Skagen. »Möglicherweise hat er vorgesorgt und stets ein Kondom benutzt, damit sie nicht schwanger wird, weil sonst der Missbrauch aufgeflogen wäre.«

      »Durchaus möglich«, bestätigt Maja. »Es würde auch unsere Theorie vom erweiterten Selbstmord stützen. Vielleicht fühlte Jochen Nowak sich schuldig und hat es nicht mehr ausgehalten.«

      Skagen gibt einen zustimmenden Laut von sich, bevor er für Maja kurz wiederholt, dass die Freunde der Familie alle berichtet hätten, bei den Nowaks sei angeblich alles in Ordnung gewesen. Bis auf Tinas blaue Flecken, die jedoch von Ronja stammen sollen.

      »Das klingt für mich eher nach einer Ausrede der Mutter«, entgegnet Maja. »Auf jeden Fall überprüfen wir, ob die jüngere Tochter ebenfalls Geschlechtsverkehr hatte. Ich gebe den verantwortlichen Ärzten im Krankenhaus Bescheid.«

      »Gut.«

      »Da ist noch etwas. Wir haben einen Drohbrief im Mülleimer der Familie gefunden. Darauf steht: ›leave this place or I kill you‹.«

      »Hm.«

      »Wir glauben, dass er von einem der Dorfbewohner stammen könnte, der nicht wollte, dass die Deutschen sich in Hultsjö ansiedeln. Bisher gibt es aber keinen Hinweis darauf, wer genau dahintersteckt. Die Leute im Dorf sind wie zugeknöpft. Ehrlich gesagt, treiben die mich in den Wahnsinn. Entweder sind sie krankhaft neugierig oder verweigern stur jegliche Aussage.«

      »Aha.«

      »He, Tom. Ist was mit dir? Du klingst so niedergeschlagen.«

      Skagen blinzelt. Maja hat früher ein gutes Gespür für seine Stimmungen gehabt, offensichtlich hat sich daran nichts geändert.

      »Sorry, heute ist kein besonders guter Tag«, entgegnet er rasch.

      »Kann ich verstehen. Bei uns brennt ebenfalls der Baum.«

      Plötzlich taucht Jette neben Skagen auf und lässt ihn erschrocken zusammenfahren.

      »Tom, du arbeitest gerade nicht zufällig auf eigene Rechnung?« Ihr Unterton klingt scharf.

      Schnell verabschiedet sich Skagen von Maja und blickt zu seiner Chefin auf. Da es bei Jette nichts bringt, um den heißen Brei herumzureden, gibt er offen zu, dass er eben an dem Fall aus Schweden gearbeitet hat.

      »Ich hatte dir doch gesagt, dass die Kollegen vor Ort das vorerst alleine regeln müssen. Mensch, Tom. Wir haben klare Prioritäten und selbst genug zu tun, als dass wir uns jetzt auch noch darum kümmern könnten.«

      »Weiß ich doch. Ich habe denen auch nur mit Adressen und meinen Deutschkenntnissen ausgeholfen. Mehr werde ich nicht tun, versprochen.«

      »Okay, dann geh jetzt wieder zu Jens, er braucht deine Unterstützung. Norwegen wartet auf unsere Ergebnisse.«

      Skagen nickt und steht auf.

      10

      In der Woche davor

      Tina läuft durch den Wald und ruft nach Ronja, aber nirgendwo ist ihre Tochter zu entdecken. Sie bleibt stehen und formt mit den Händen einen Trichter. »Ronjaaa! Wo bist du?«

      In der Ferne ertönt der kollernde Ruf eines Raben, als antworte dieser an Ronjas Stelle. Ansonsten herrscht eine allumfassende Stille. Nicht mal Vögel zwitschern. Ist das normal?, fragt sich Tina. Sind Vögel normalerweise nicht überall? Auch kann sie keine Grillen hören. Der Wald wirkt irgendwie … tot.

      Ängstlich dreht sie sich um. Die Nadelbäume stehen dicht an dicht und lassen kaum Sonnenlicht durchsickern. Dazwischen liegen große, moosbewachsene Findlinge, als hätten sich Riesen damit beworfen. Natürlich kennt Tina den richtigen Grund dafür, aber die geologische Erklärung mit dem Gletschergeröll erscheint ihr auf einmal weniger plausibel. Sie ahnt, warum sich die Skandinavier all diese düsteren Geschichten erzählen. Der Wald sieht tatsächlich aus, als bräche gleich ein zotteliges Fabelwesen durchs Unterholz, um sie, den Eindringling, aufzufressen. Keine Frage, der Wald in Schweden besitzt eine weit bedrohlichere Qualität als der in Deutschland. Vermutlich ist es die schiere Größe, die auf Tina so bedrückend wirkt. Wer weiß schon, was sich alles darin verbirgt?

      »Ronja?«, ruft sie erneut, diesmal leiser. Zweige knacken unter ihren Füßen. Der Rabe antwortet in der Ferne, und nun haben auch die Mücken sie entdeckt und sirren um sie herum. Tina verscheucht sie mit der Hand.

      Dieses diffuse Gefühl von Angst, das gegen ihren Nacken drückt und mit jeder Sekunde stärker wird. Unwillkürlich zieht Tina die Schultern hoch und blickt sich um. Ob es hier Wölfe gibt? Oder Bären? Was, wenn Ronja nicht mehr auftaucht? Wenn sie sich verlaufen hat? Sie ist bestimmt in den Wald gegangen, weil sie ihre Trolle suchen wollte.

      Schweiß läuft Tinas Hals hinab und in den Ausschnitt ihres T-Shirts. Die Luft ist feucht und stickig. Das Surren der Mücken wird nervtötender. Das ist definitiv ihr Reich. Der Mensch hat nichts darin verloren. Er ist lediglich Futter.

      Tina beschleunigt ihre Schritte. Das Rufen hat sie aufgegeben. Sie will raus aus dem Wald. Immer schneller rennt sie über den unebenen Grund, weiß eigentlich gar nicht, in welche Richtung sie sich wenden soll. Die dünnen Sohlen ihrer Ballerinas lassen sie jeden Stein unter ihren Füßen spüren.

      In ihrer Hast stolpert sie über einen Ast und fällt hin. Erschrocken saugt sie Luft ein, weil ein scharfer Schmerz durch ihr Bein schießt. Als das Stechen nachlässt, sieht Tina an sich hinab. Aus einer Schramme am Schienbein sickert Blut. Aber da ist noch etwas anderes. Es liegt neben ihr im niedrigen Blaubeergestrüpp, und ein süßlich muffiger Geruch geht davon aus.

      Ein totes Tier.

      Das bräunliche Fell hängt in Fetzen von den bleichen Knochen, die von schwarz verfärbten Geweberesten zusammengehalten werden. Der Kopf ist nicht zu sehen, dennoch glaubt Tina, dass es sich um ein junges Reh handelt. Viel ist nicht mehr davon übrig, andere Tiere haben sich daran satt gefressen, haben Knochen zermalmt und den halben Rumpf verschlungen.

      Tina muss würgen. Schnell stemmt sie sich auf die Füße und entfernt sich von dem verwesenden Kadaver. Mit ungehaltenen Bewegungen streicht sie sich den Schmutz vom Rock. In Hamburg wäre ihr das nicht passiert. Dazu noch diese vielen Mücken. Wild fuchtelt Tina in der Luft herum und fühlt sich nicht zum ersten Mal absolut fehl am Platz.

      Sie richtet sich auf, muss Ronja finden und dann endlich raus hier. Aber von ihrer Tochter ist nach wie vor nichts zu sehen. Allerdings hat Tina mittlerweile auch keine Ahnung mehr, welcher Weg zum Haus zurückführt. Oder zur Straße. Sie hat nicht darauf geachtet, in welche Richtung sie gegangen ist, als sie das Grundstück verlassen hat. Definitiv ein Fehler bei ihrem schlechten Orientierungssinn. Wie weit hat sie sich vom Haus entfernt? Wenn sie ihr Handy dabeihätte, würde sie einfach die Standortbestimmung benutzen, aber das Gerät liegt im Schlafzimmer auf dem Nachttisch. Sie könnte nach Jochen rufen. Tina verwirft den Gedanken. Der hört sie bestimmt nicht, schließlich ist er dabei, die Wand einzureißen. Nein, sie wird das allein schaffen müssen.

      Tina will gerade losgehen, als ein lautes Knacken sie