Название | Antisemitismus |
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Автор произведения | Achim Bühl |
Жанр | Зарубежная прикладная и научно-популярная литература |
Серия | marixwissen |
Издательство | Зарубежная прикладная и научно-популярная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783843806183 |
EINLEITUNG
In dt. Städten müssen Synagogen durch die Polizei geschützt werden. In Berlin erlebt man, wie ein Fahrgast aus Wut, weil ihm der Bus vor der Nase wegfährt, gegen das Fahrzeug tritt und „Jude“ schreit. In der dt. Hauptstadt gehören Angriffe auf Juden, die als solche erkennbar sind, zum Alltag. Angst geht um unter Juden, sodass die Kippa in der Öffentlichkeit kaum mehr getragen wird. In Frankreich und in den USA führten terroristische Attentate auf Synagogen, bei denen zahlreiche Todesopfer zu beklagen waren, zur tiefen Verunsicherung der jüdischen Gemeinden. In nahezu ganz Europa und in den USA ließen sich unzählige Beispiele dafür anführen, dass antisemitische Denkmuster, antisemitische Sprechakte und gewalttätige Handlungen von erschreckender Aktualität sind.
Die Frage „Was ist Antisemitismus?“ ist gleichwohl nicht leicht zu beantworten, zumal zahlreiche Definitionen existieren und der Terminus als solcher umstritten ist. In einem ersten definitorischen Zugriff ließen sich unter Antisemitismus alle „feindseligen oder gar hasserfüllten Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber Juden und Jüdinnen“ fassen. Dieser erste Versuch zeigt bereits die Schwierigkeit einer präzisen Begriffsbestimmung auf, insofern sich nunmehr die Frage stellt: „Wer ist Jude?“ Laut Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, ist Jude, wer von einer jüdischen Mutter abstammt oder zum Judentum konvertiert. Sowohl der Konvertit als auch diejenige Person, welche eine jüdische Mutter hat oder von einer Mutter abstammt, die ihrerseits zum Judentum konvertierte, gelten als gleichberechtigte wie vollwertige Juden. Die Vollwertigkeit der konvertierten Mitglieder einer jüdischen Gemeinde zeigt sich in Berlin am Sachverhalt, dass die Rabbinerin der Synagoge in der Oranienburger Straße ihrerseits eine Konvertitin ist. Der zum Judentum Konvertierte ist ein gleichberechtigter Jude und bleibt nicht etwa ein Konvertit, der diesen Sachverhalt stets zu benennen oder als vermeintlichen Makel offenzulegen hätte. Übernimmt man diese Definition des Judentums bzw. des Jüdischseins, so ergeben sich neuerliche Probleme, insofern es gerade der Antisemit ist, der das Recht der definitorischen Eigenbestimmung missachtet. Für den Antisemiten gilt der Leitsatz: „Wer Jude ist, bestimme ich!“ Der dt. Nationalsozialismus hat bei der Durchführung seines Vernichtungsprogramms nicht das jüdische Religionsgesetz, sondern seine eigenen willkürlichen Kriterien bei der Bestimmung des „Jüdischseins“ zugrunde gelegt. Die Relevanz des Sachverhalts wird daran ersichtlich, dass dieser Tatbestand den jungen Staat Israel vor Probleme stellte. Nach israelischem Gesetz hat jeder Jude das Recht einzuwandern und die israelische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Bei der Staatsgründung im Jahr 1948 stellte sich auch für Israel die Frage: „Wer ist Jude?“ Sollte die Definition der Halacha zugrunde gelegt werden und damit Menschen, die unter dem Nationalsozialismus als Juden verfolgt wurden, die Einwanderung nach Israel versagt werden, da sie laut jüdischem Religionsgesetz keine Juden waren? Israel traf die politische Entscheidung, auch denjenigen Personen, die nur einen einzigen jüdischen Großelternteil besitzen, die Einwanderung zu gestatten. Unsere erste Annäherung an den Terminus „Antisemitismus“ hat somit ergeben, dass der Definitionsversuch „feindselige oder gar hasserfüllte Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber Juden“ zwingend um den Passus „oder Menschen, die zu Juden konstruiert werden“ zu erweitern ist.
Versteht man unter Antisemitismus als Arbeitsdefinition einen Oberbegriff, der alle Formen gruppenbezogener Feindschaft gegenüber Juden oder zu Juden konstruierter Menschen umfasst, so lässt sich konstatieren, dass die Ursprünge des sozialen Phänomens bereits in der Antike liegen und der Tatbestand als solcher auch heutzutage von hoher Aktualität ist. Diese Aussage ist keineswegs damit identisch, einem „ewigen Antisemitismus“ das Wort zu reden. Weder ist der Antisemitismus „ewig“, da es durchaus Länder gegeben hat mit keinem oder nur äußerst geringem Antisemitismus, es Phasen „relativer Ruhe“ gab, in denen es zu wechselseitigen sozio-kulturellen Verflechtungen und vielfältigen Bereicherungen kam, noch sind die Erscheinungsformen, Varianten, Funktionen wie Träger des Antisemitismus stets die gleichen geblieben. Einem „ewigen Antisemitismus“ das Wort zu reden, liefe unweigerlich darauf hinaus, die Ursache des sozialen Phänomens den Juden selber und nicht dem Antisemiten anzulasten und damit antisemitisches Gedankengut zu reproduzieren sowie resignierend die Unmöglichkeit seiner Bekämpfung oder Abschaffung zu konstatieren.
Da der Antisemitismus als solcher nicht stets der gleiche geblieben ist, stellt sich die Frage nach einer historischen Phaseneinteilung des sozialen Phänomens. Unseres Erachtens lassen sich sechs Phasen unterscheiden, und zwar erstens der überwiegend religiös geprägte Antisemitismus, der sich von der Antike bis zum Mittelalter erstreckte (Kap. 1, Kap. 2), zweitens der frühneuzeitliche Antisemitismus, der in Gestalt der „Statuten von der Reinheit des Blutes“ bereits ein biologisches Differenzkriterium konstruierte sowie zugleich die soziale wie ökonomische Vorherrschaft der Christen postulierte (Kap. 3), drittens der säkularisierte, völkisch-nationalistische Antisemitismus bis zur Mitte des 19. Jh.s, der gleichwohl noch immer stark christlich geprägt war (Kap. 4), viertens der „rassenbiologisch“ argumentierende „moderne Antisemitismus“ seit der Mitte des 19. Jh.s (s. Band 2, Kap. 1 u. 2), fünftens der eliminatorische Antisemitismus des dt. Nationalsozialismus, bei dem der alles beherrschende „Rassegedanke“ zum sechsmillionenfachen Massenmord an den europäischen Juden führte (s. Band 2, Kap. 3), sowie schließlich sechstens der sog. sekundäre Antisemitismus bzw. Post-Holocaust-Antisemitismus nach 1945 (s. Band 2, Kap. 4).
Unsere Einteilung der historischen Phasen verwendet den Terminus „Antisemitismus“ somit als Oberbegriff und lehnt eine dichotome Gegenüberstellung bzw. eine binäre Konstruktion von „Antijudaismus“ versus „Antisemitismus“ ab. Vertreter des dichotomen Konstrukts konstatieren demgegenüber einen religiös begründeten Antijudaismus, der zeitlich bis in die Mitte des 19. Jh.s angesetzt wird, sowie einen „rassenbiologischen“ Antisemitismus ab Mitte des 19. Jh.s und betonen einen grundlegenden Unterschied beider Phänomene. Argumentativ beziehen sich die Befürworter dieser Position auf den Sachverhalt, dass die Begrifflichkeit „Antisemitismus“ durch einen Personenkreis um Wilhelm Marr (1819–1904) im Jahr 1879 geprägt wurde. Die Ursache des Antisemitismus lag für den Journalisten bei den Juden selbst, insofern diese Marr zufolge der »semitischen Rasse« angehörten, die er als minderwertig bezeichnete. Die Antisemiten benutzten den Terminus „Antisemitismus“ in affirmativer Weise als Eigenbezeichnung („Antisemiten-Liga“), agitierten indes nur gegen die Juden und nicht etwa gegen alle zur semitischen Sprachfamilie zählenden Ethnien wie bspw. die Araber. Letzterer Sachverhalt verweist darauf, dass der Terminus „Antisemitismus“ unabhängig davon, ob man diesen phasenübergreifend oder nur für den Zeitabschnitt ab Mitte des 19. Jh.s benutzt, zu problematisieren ist, insofern der Terminus die Existenz „biologischer Rassen“ suggeriert, die indes nichts als die Erfindung des Rassisten sind. Weder gibt es eine „Rasse“ der „Semiten“ noch eine „Rasse“ der „Negriden“ oder der „Mongoliden“; zu konstatieren sind lediglich Sprachverwandtschaften zwischen dem Hebräischen und dem Arabischen („semitische Sprachfamilie“), die für das vermeintliche Rassenkonstrukt („die Semiten“) im 19. Jh. herhalten mussten.
Wir wollen uns im Folgenden der strittigen Frage zuwenden, ob bei der Judenfeindschaft trotz zu konstatierender qualitativer Wandlungsprozesse primär epochenübergreifende Kontinuitätslinien zum Tragen kommen („Antisemitismus“) oder aber die Dominanz eines dualen, antipodischen Bruchs („Antijudaismus“ versus „Antisemitismus“) zu konstatieren ist. In der „Lutherdekade“ sowie im „Lutherjahr“ ist angesichts des Reformationsjubiläums immer und immer wieder betont worden, Luther sei kein Antisemit sondern nur ein Antijudaist gewesen. Der Sprachgebrauch angesichts der Feierlichkeiten verdeutlicht exemplarisch die Problematik einer dualistischen Gegenüberstellung der Termini „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“. Versteht