Название | Nacht und Hoffnungslichter |
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Автор произведения | Йозеф Рот |
Жанр | Языкознание |
Серия | Wiener Literaturen |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783903005884 |
Sieht man diese gottverlassenen Caféveranden an, so drängt sich einem fast unwillkürlich der Vergleich mit nie erfüllten Friedensträumen, verregneten Aussichten und verschnupften Weltlagen. Diese umgekehrten Tische mit den umgestülpten Korbstühlen, die vor Nässe weinen, sehen einer verkehrten Welt verzweifelt ähnlich, in der alles auf dem Kopf stünde, wenn auch nur etwas einen Kopf hätte. Die Luft, die man eigentlich von Rechts wegen hier draußen genießen sollte, ist erfüllt mit Kriegsberichten, die von den Friedenskonferenzen kommen, und das Eis, das in normalen Zeiten hier geschluckt werden würde, hält leider noch immer die Herzen der Menschen krampfhaft umschlossen. So wird, was dereinst Fortsetzung gemächlichen Familienlebens und gemütlicher Tarockpartien auf die Straße war, heute eine recht ungemütliche Verquickung einer ungemütlichen Öffentlichkeit mit privaten Familiensorgen. Die Kaffeehausterrasse ist heute nur mehr ein überflüssiges Requisit aus besseren Zeiten und obendrein noch ein Verkehrshindernis wie Straßenbahn, Post, Telephon und andere »Verbindungsmittel«. Für Kaffeesieder hat sie allerdings einen Vorteil: Sie ermöglicht ihnen, unangenehme Stammgäste, die über die Preiserhöhung schimpfen, auf glatte Weise und im wahrsten Sinne des Wortes – an die Luft zu setzen …
Nachtleben
Nacht für Nacht gehe ich denselben Weg. Nacht für Nacht sehe ich dieselben Bilder. Vor dem Versorgungshause fährt der Leichenwagen vor, unerbittlich, nüchtern, geschäftsmäßig, um diejenigen zu versargen, die ehemals versorgt waren. Man weiß wirklich nicht, was vorteilhafter ist. Es könnte auch ein boshafter Druckfehler sein …
Ein paar Häuser weiter, vor dem anatomischen Institut, steht wieder der Tod. Diesmal in modernerem Gewande. Ein Straßenbahnwagen, dessen rückwärtige Wand ein weithin leuchtendes Kreuz trägt. Die Tore des anatomischen Instituts stehen weit offen. In plumpen glattgehobelten Holzkästen, die eine verschwommene Ähnlichkeit mit Holzsärgen haben, liegen die sezierten, geprüften, durchstudierten Leichname. Kasten um Kasten wird in den Straßenbahnwagen geschoben. Vollbeladen mit zu wissenschaftlichen Zwecken hinaufavancierten Leichen fährt die Straßenbahn mit dem weithin leuchtenden Kreuz schließlich davon. Es ist die einzige Wiener Elektrische, deren Gäste sich in stummer Liebenswürdigkeit nicht auf die längst sezierten Hühneraugen treten …
Was ist das dort vor dem Votivplatz? Wieder der Tod? Werden Gräber geschaufelt? Geheimnisvoll vermummte Männer um ein flackerndes Windlicht gruppiert. Sie hacken mit Spaten und Krampen in der Straßenmitte, zwischen den Schienen der Straßenbahn, krempeln das ganze Pflaster auf. Schatzgräber etwa? Symbol wären sie dann, Repräsentanz des deutschösterreichischen Volkes, das, arm an Beutel, krank am Herzen, nach Schätzen gräbt und froh ist, wenn es Regenwürmer findet, um sie zu verspeisen …
Es sind weder Toten- noch Schatzgräber, sondern Arbeiter aus der Reparaturwerkstätte der städtischen Elektrizitätszentrale, und ihr musterloses nächtliches Hantieren dient der Aufrechterhaltung der Straßenbahnverbindungen. Sie schaufeln sozusagen das Grab des Wiener Verkehrs ab, um diesem seine Auferstehung zu erleichtern …
Auf dem Hof steht seit einiger Zeit ein Mann mit einem Sodawasserkarren. Täglich um die Stunde, zu der, den Lichtsparmaßnahmen zufolge, die Nacht unerbittlich eintreten muß, besetzt der Mann seinen Posten. Er ist eine Kombination von Salamutschl- und Würstelmann, eine Neubildung ungefähr, den geänderten Umständen angepaßt. Er verkauft Speck, Sodawasser und Backwerk und ist die einzige Erscheinung im Wiener Nachtleben, die mit ihrem flackernden Gasolinlicht in eine frohe Zukunft weist.
Denn so ist unser »Nachtleben«: Unsere Mitbürger sterben und werden eingesargt wie unsere Vergangenheit, ihre Leichen seziert wie unser Vaterland, die Auferstehung unseres Straßenverkehrs sieht einem Begräbnis verzweifelt ähnlich, und das Licht unserer Hoffnung ist ein irrlichterndes Gasolinflämmchen, das über gesalzenem Amerikaspeck und unerschwinglichen Ersatzmehlspeisen im Nachtwinde taumelt …
Josephus
Der Neue Tag, 23.5.1919
DIE MÜLLI!
Plötzlich geschah es, daß eine Frau aus der Ecke des übervollen Straßenbahnwagens den Ruf ausstieß: »Die Mülli!« Hätte sie: »Es brennt!« gerufen, die Aufregung wäre viel geringer gewesen. Ich sah aus bleichen, bartstoppelübersäten Mannsköpfen gierige Heißhungeraugen hervorquellen, ich sah Frauen aus zermarterten Gesichtern Habichtblicke wie Pfeile abschnellen, Kinder, blasse, semmelblonde, dürr und pergamenten wie Dörrgemüse, erstaunt, erschrocken bebend wie vor einem Großen, Ungeahnten, Schönen und doch Schauerlichen die Köpfe zusammenstecken und neugierig zwischen Armen und Beinen der Großen hindurch in jene Ecke blicken, allwo ein dünner Strahl, weiß und fettgelblich, wie Elfenbein, in einer Ritze des Waggonbodens bedächtig und gemächlich rann. Die Milchkanne der Bäuerin aus Stockerau war über die Füße eines Fahrgastes gestolpert, der an einem Ersatzriemen aus Papierleinwand hart unter dem Waggondach hing, als wollte er demonstrativ die Abschaffung der Todesstrafe leugnen. Der Inhalt der Milchkanne bahnte sich viele Wege durch Ritzen und Spalten des Waggonbodens. Die Leute, die im Waggon saßen, hoben die Füße in die Höhe, aus Angst, in die Milch treten zu müssen. War es die Milch einer Zeus geweihten Kuh, vielleicht Europas? War es Milch aus den heiligen Eutern Mahabharathus? Was war das für eine Milch, in der die Augen aller Passagiere ehrfurchtsvoll ersoffen und vor der die Leute auf die Bänke stiegen, um sie nicht zu beschmutzen? Es war die Milch einer sterblichen Kuh aus den irdischen Gefilden von Stockerau. Milch war es, eine halbverklungene Sage aus den Zeiten der Vorvergangenheit für die Großen, ein weißes Silbermärchen von ungeahnten Geheimnissen für die Kleinen. Es war eine Milch wie jene, die per Liter 15 Kreuzer kostete zu einer Zeit, da die Krone noch einen Nährwert hatte und die Milch eine Valuta. Es war Milch, gewöhnliche, außerordentliche, einfache, göttliche Milch …
Es hat wenig gefehlt und ich hätte das erhebende Schauspiel erlebt, daß gestoßene, zerschundene, verhungerte, vom Kriege und seinen Anleihen gezeichnete, durchgehaltene, Schulter an Schulter überstandene, Teisinger und Tode entgangene, von Blockaden gedrosselte und von Ernährungsmaßnahmen rationierte Ebenbilder Gottes auf den Boden einer Elektrischen glatt und bäuchlings ausgestreckt gelegen hätten, um mit jenen Zungen, mit denen sie mit Hurrah Hötzendorf gepriesen, die ausgeronnene Milch zu schlecken.
Trara!
Seit einiger Zeit schwingt mitten durch das Brummen der Autos, das Kreischen der Elektrischen und das Tuten der Schaffner ein seltsamer Ton von wunderbarer Melodie. Es klingt wie das Halali einer Jagd und das selige Trara eines Postillons. Es sind die Signale eines Autos; von dem ich vermute, daß es Eigentum einer fremden Militärmission ist. Ich sage seinem Besitzer somit öffentlich Dank. Das Signal ist hell und lustig und klingt wie eine Aufforderung mitzukommen. Komm mit, ruft es, sehen wir uns die Welt an! In diesem silbernen Trompetenton vernehme ich die hellen Stimmen einer europäischen Zukunft: Liebliche Maiennächte mit fliegenden Silberwölklein, Postillon, Abschied und Reise ins Märchenblaue. Ich sehe Grenzen fallen, Pässe überflüssig werden, Visitationen und Requisitionen überflüssig werden, und ich fahre auf einer mondlichtüberfluteten breiten Straße durch die römische Campagna. Und ich sehe in eine Zukunft, in der ich ohne jede Einreisebewilligung selbst nach Hütteldorf-Hacking gelange …
Die Politik, die Mädel und der italienische Stern
Einmal,